RNI Memories
Erinnerungen
von Hans Knot

RNI Memories (Teil 16)
Die Spionagestory von Andy Archer
von Hans Knot

Radio Nordsee International kam einige Male negativ in die Schlagzeilen. Abgesehen von den Konflikten mit der Veronica-Organisation gab es die Beschuldigungen von Andy Archer. Er war sauer wegen seiner Entlassung bei RNI und erklärte einem Journalisten des „Telegraaf“, dass die Sendeeinrichtung der MEBO II zur Übermittlung geheimer Informationen benutzt würde. So wurde die Spionagestory von RNI in die Welt gesetzt.

Die Geschichte von Radio Nordsee International kennt zwei Perioden: Die erste begann am 23. Januar 1970, als Testsendungen auf Kurzwelle 6210 kHz und wenig später auch auf UKW  102 MHz zu hören waren. Diese Testsendungen wurden von Horst Reiner und Roger Day produziert. Kurz darauf begann die Station mit Programmen, die sowohl auf deutsch als auch in englisch präsentiert wurden. Am 16. Februar wurden zusätzlich Mittelwellensender an Bord des Sendeschiffes MEBO II in Betrieb genommen, und von dem Zeitpunkt an konnte man die Programme auch auf verschiedenen MW-Frequenzen empfangen. Eine Weile zumindest, denn schon nach acht Monaten kam am 24. September 1970 das Ende der Sendungen und damit auch das Ende der ersten Periode von RNI.

Die Eigentümer, Meister und Bollier, ließen die DJs eine Erklärung verlesen, worin erwähnt wurde, die Sendungen würden eingestellt, um Radio Veronica, das bei den Niederländern so beliebt sei, nicht in die Quere zu kommen. Dabei wurde auf mögliche Maßnahmen der niederländischen Behörden gegen die Sendungen von RNI verwiesen, wobei die Aktivitäten von Radio Veronica dann natürlich auch davon betroffen gewesen wären. Es war einfach kein Geld mehr da, um die Sender zu betreiben und die Eigentümer hatten große finanzielle Schulden bei der Veronica-Organisation mit dem Schiff als Faustpfand. Die letzte offizielle Sendestunde wurde durch Andrew Dawson mitgestaltet, besser bekannt unter seinem DJ-Namen „Andy Archer“. Archer hatte in den sechziger Jahren bereits die nötigen Erfahrungen auf einer Reihe von Seesendern gemacht, wobei er vor allem durch seine Zeit bei Caroline bekannt wurde.

Horst Reiner mit Meister & Bollier im Studio.

Die zweite Sendeperiode von RNI begann am 14. Februar 1971 mit Testsendungen, wonach die offizielle Wiedereröffnung der Station am 20. Februar 1971 stattfand und bis zum 31. August 1974 dauerte. Zuerst war die Präsentation nur auf englisch, aber am 6. März 1971 folgten auch niederländischsprachige Programme. Im selben Jahr stand die Organisation hinter RNI oft in der Öffentlichkeit und das nicht nur im positiven Sinne. Negative Ausnahmen bildeten zuerst die Rechtsstreitigkeiten mit und gegen die Veronica-Organisation,  womit letztere versuchte, die Wiederaufnahme des Sendebetriebs von RNI verbieten zu lassen. Im September 1970 hatte die Veronica-Direktion nämlich den Eigentümern  des Sendeschiffes, den Schweizern Meister und Bollier, die helfende Hand ausgestreckt und ihnen einen Betrag über eine Million Gulden zur Verfügung gestellt, unter der Bedingung, dass sie nie mehr in niederländischer Sprache vor der holländischen Küste Sendungen ausstrahlen sollten. Als dies doch geschah, strengte die Veronica-Organisation einen Rechtsstreit an. Der Richter stellte jedoch fest, dass er in dieser Angelegenheit keine Entscheidung treffen könne, weil sich die Geschehnisse in internationalen Gewässern ereigneten und darum nicht unter die Zuständigkeit der niederländischen Justiz fielen.

Eine weitere negative Flut an Publicity war die Folge des Bombenanschlages am 15. Mai 1971 auf das Sendeschiff MEBO II, verübt durch einige Taucher im Auftrag der Veronica-Organisation. Tatsächlich wurde kein Auftrag zum Anbringen eines Sprengsatzes gegeben. Die Absicht war, dass die Taucher alles unternehmen sollten, um die Ankerkette der MEBO II zu brechen. Das Sendeschiff sollte nach erfolgreicher Aktion in nationale Gewässer geschleppt werden, wo das Schiff dann durch die niederländischen Behörden hätte beschlagnahmt werden können. Die Übeltäter gingen die Sache jedoch etwas zu heftig an. Ein starker Brand an Bord des Sendeschiffes war die Folge. Glücklicherweise wurde niemand verletzt und die Sendungen konnten in den Nachtstunden wieder aufgenommen werden.

Die Beseitigung des Schadens sollte zunächst im Hafen erfolgen, aber die Eigentümer von RNI sahen dabei die Gefahr, dass das Sendeschiff hinterher beschlagnahmt werden könnte. Man beschloss darum, die Reparaturen auf offener See durchzuführen, wobei unter anderem eine neue Brücke angebracht wurde. Die drei Taucher, denen der Direktor und ein Mitarbeiter des Stabes von Radio Veronica eine beträchtliche Geldsumme zugesagt hatten, wurden sofort festgenommen, ebenso zwei andere Veronica-Mitarbeiter. Sie wurden alle zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Taucher versuchten nach ihrer Freilassung noch einmal Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie eine Sitz-Blockade vor dem Eingang des Veronica-Gebäudes am Utrechter Weg in Hilversum durchführten. Der Grund war, dass man sie nicht für ihre Dienste entlohnt hatte. Der Anschlag hatte jedoch zur Folge, dass Debatten in der Zweiten Kammer geführt  wurden, die später auf die Einrichtung einer speziellen Anhörungskommission und schließlich die Einführung des Anti-Seesender-Gesetzes hinauslaufen sollten.

Ein weiteres Ereignis, womit die RNI-Organisation negative Schlagzeilen bekam, betraf den Verdacht, man würde an Bord neben der Produktion von Radioprogrammen Spionage-Aktivitäten nachgehen. Die Verdächtigungen wurden durch einen der DJs von RNI vorgebracht, nachdem dieser entlassen worden war. Es begann alles mit einem Artikel auf der Titelseite des „Telegraaf“, worin der betreffende DJ, Andy Archer, behauptete, dass die täglichen Sendungen von RNI nur zur Tarnung für Spionage-Aktivitäten dienten, die ebenfalls vom Sendeschiff ausgestrahlt wurden. Er gab an, dass deutschsprechende Techniker an Bord der MEBO II nachts auf dem 31-m-Band regelmäßig nicht zu entziffernde Nachrichten sendeten. Wörtlich berichtete Archer: „Bestimmt zweimal pro Woche bleibt nachts der große Generator an Bord an. Als ich mitten in der Nacht einmal nachschauen ging, entdeckte ich einen der Schweizer Techniker. Die Zugangstür zum Studio hatte er abgeschlossen, aber durch das Bullauge sah ich, wie er auf die Rekorder Bänder spulte. Zurück in meiner Kabine, schaltete ich das Radio ein. Weder auf Mittelwelle noch auf UKW war von RNI etwas zu hören. Als ich dagegen auf Kurzwelle im 31-m-Band lauschte, erklangen die meist seltsamen Geräusche.“

Archer fügte noch hinzu, dass auch aus dem Telexraum an Bord Berichte gesendet worden seien, und dass der Zutritt zu diesem Bereich für DJs verboten war. Als ich an dem bewussten Tag Archers Mitteilungen im Telegraaf las, brachte mich seine Geschichte zum Lachen. Diese Zeitung war unter Seesender-Fans dafür bekannt, dass sie Informationen unters Volk brachte, ohne auch andere Quellen zu recherchieren. Hierdurch wurde oft nicht die ganze Wahrheit veröffentlicht.

Ich ließ selbst oft nach dem Close-Down das Radio auf RNI eingestellt laufen. Manchmal folgten den regulären Sendungen nämlich Berichte von Technikern. Auch der Kurzwellensender blieb wohl einmal eingeschaltet. Ich nahm die Sendungen dann auf. Zu jener Zeit benutzte ich ein Tonbandgerät, worauf mit geringster Geschwindigkeit ein superdünnes Band mindestens acht Stunden lief. Schnell vorgespult konnte man beim abhören feststellen, wann ein Signal gesendet worden war. Meistens fand man dann die einige Minuten dauernden Klänge einer Aufnahme, die im Zeitraffer gesendet wurde, oft in vierfacher Aufnahmegeschwindigkeit. Nachdem ich ein paar Minuten an den Geschwindigkeitsstufen meines Rekorders herumgespielt hatte, konnte ich die betreffende Aufnahme recht schnell auf normale Sprechgeschwindigkeit bringen. Spannende geheime Informationen traten dabei nicht zutage. Die Aufnahmen enthielten immer technische Informationen des Haupttechnikers an die Eigentümer des Schiffes und eine Aufzählung von Teilen, die man künftig an Bord des Sendeschiffes wünschte.

Es wurden auch immer Informationen über den Zustand auf See gegeben sowie die Wetterbedingungen. Andy Archer war gegenüber dem „Telegraaf“ also kräftig ins Fantasieren gekommen, was auch deutlich wird, wenn man weiß, dass im sogenannten „Telex“-Raum auch diverse Rundfunkempfangsgeräte zum Abhören von Nachrichtenmeldungen standen, die dann wieder zu „neuen“ News-Bulletins für Radio Nordsee verarbeitet wurden. Das Telex wurde seitens der Redaktion des „Algemeen Dagblad“ auch für die Berichterstattung in Richtung Sendeschiff benutzt. Die Leser der Nachrichten, die gleichzeitig auch DJs waren, stellten selbst die News im „Telex“-Raum  zusammen, hatten also tagtäglich Zutritt zu diesem Bereich. Archer konnte seine Bemerkung über den verschlossenen Telex-Raum dem „Telegraaf“ leicht unterjubeln. Nicht viele Menschen waren hierüber informiert. Wahrscheinlich handelte es sich lediglich um eine kleine Anzahl von RNI-Mitarbeitern, insbesondere die direkt Tätigen und eine kleine Personengruppe, die Beziehungen zur RNI-Organisation hatte.

Dass die Direktion des niederländischen Zweiges von RNI, Radio Noordzee (Teil des Strengholt-Konzerns), erschrocken über die Publicity war, kann man an einer Pessekonferenz erkennen, die noch am Tag der Veröffentlichung im „Telegraaf“, am späten Nachmittag in Scheveningen organisiert wurde. Neben John de Mol sr. waren dabei auch die beiden Schweizer Eigentümer, Meister und Bollier, anwesend. „Diese Geschichte ist der größtmögliche Unsinn, ich finde dafür keine besseren Worte. Die Enthüllungen sind weder gehauen noch gestochen. Nachdem er schon einmal für uns gearbeitet hatte, hatten wir ihn aufs Neue eingestellt. Er ist nämlich ein ausgezeichneter DJ, benahm sich aber wiederholt unmöglich an Bord und entpuppte sich als sehr aktiver Homosexueller, der zudem ständig betrunken war. Wohlgemerkt, wir haben nichts gegen Homosexuelle, aber niemand an Bord war sicher vor ihm, aus diesem Grund waren wir gezwungen, ihn zum zweiten Mal zu entlassen“, so John de Mol. Bemerkenswert ist noch, dass Andy Archer sich lediglich drei Tage an Bord aufhielt, wovon er die meiste Zeit betrunken war.

Wieder einen Tag später wusste der „Telegraaf“ zu vermelden, dass mindestens eine Person nicht sonderlich erstaunt war über die Spionage-Affäre. Dieses Mal ging es um Kees Manders, an den der damalige Starreporter Hans Knoop herangetreten war. Der nach eigener Aussage „erste niederländische Direktor von RNI 1970“ erklärte: „Die Schweizer Meister und Bollier schlugen mir voriges Jahr schon vor,  für eine fremde Macht zu arbeiten. Während einer Besprechung, die ich mit beiden Herren führte, sagten sie zum Schluss, nachdem sie sich erst zahlreiche Vorschläge von mir anhörten, dass sie nicht mehr weiter könnten angesichts dessen, dass sie mit dem Schiff in den Fängen einer fremden Macht sitzen würden.“ Die Besprechung soll in Wassenaar stattgefunden haben, in Gegewart von ir. P. Heerema - früher beteiligt am Projekt vom REM-Eiland  - und Max Lewin - früher Radio Veronica.

Vor diesem Hintergrund erzählte Manders dann auch einem Journalisten des „Telegraaf“, überhaupt nicht überrascht gewesen zu sein über die Äußerungen von Andy Archer. Zu einer echten Untermauerung seiner Erklärung kam Manders in dem betreffenden Artikel jedoch nicht.

Die beiden Schweizer ließen das nicht auf sich beruhen und reichten eine offizielle Klage beim Rat für Journalistik ein. Sie baten den Rat, eine Erklärung abzugeben, worin festgestellt wird, dass der „Telegraaf“ durch die bewusste Publikation vom 30. September 1971 die journalistischen Anstandsregeln verletzt habe. Auch forderte man die vollständige Veröffentlichung eines Briefes von Andy Archer, der an die Presse - also auch an den „Telegraaf“ -  gegangen war und worin er erklärte, keinerlei Beweise über die vermeintlichen Spionage-Aktivitäten zu besitzen und dass der „Telegraaf“ die Geschichte aufgebauscht habe. Zu einem Urteil ist es nie gekommen und aus der Veröffentlichung des Briefes ist demzufolge nie etwas geworden.

In einer anderen Morgenzeitung, dem „Algemeen Dagblad“, erklärten die Eigentümer der MEBO II unter anderem: „Sie können von mir aus das ganze Schiff von vorn bis hinten untersuchen. Techniker können Sie auch mitnehmen, um die Sache an Bord zu betrachten. Die Unterstellung, wir hätten ein Spionageschiff, ist lächerlich. Es wäre doch zu töricht, über unser Sendeschiff Informationen durchzugeben, während es so viele andere, einfache Kommunikationsmittel gibt, um dies zu tun. Die PTT und der BVD hätten doch auch Wind davon bekommen müssen.“

Das „Algemeen Dagblad“ wusste außerdem zu vermelden, dass John de Mol sr. mittlerweile den BVD eingeladen hatte, um eine offizielle Untersuchung auf dem Sendeschiff vorzunehmen. Gerüchte, als würde sich der BVD in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium schon monatelang mit einer Untersuchung gegen RNI beschäftigen, wurden anhand einer Reihe von Telefonaten mit beteiligten Einrichtungen widerlegt, aus denen hervorging, dass es überhaupt keinen Grund für eine solche Untersuchung gab.

In der Tat war Andy Archer wütend, weil man ihn nach bloß ein paar Tagen an Bord des RNI-Sendeschiffes, wegen der durch John de Mol sr. genannten Gründe entlassen hatte. Er wollte Rache nehmen und wählte dafür bewusst den „Telegraaf“ als das am besten geeignete Medium für seine Verdächtigungen aus. Denn diese Zeitung war die meistgelesenste Morgenzeitung in den Niederlanden. Doch wuchs ihm die Sache schnell über den Kopf. Nachdem Bollier und Meister zusammen mit John de Mol sr. ihre Pressekonferenz gegeben hatten, bekam er einen gehörigen Schrecken. Er sah keinen Weg um da noch herauszukommen und suchte Rat bei  Hans Verbaan, damals Vorkämpfer der Free Radio Campaign in Holland. In Beratungen wurde damals ein offizieller Brief aufgesetzt, der an die Direktion von RNI und Radio Noordzee gerichtet war, worin er sich für sein ungebührliches Verhalten entschuldigte. So wie ich bereits schrieb, ist dieser Brief jedoch niemals an die Öffentlichkeit gelangt.

Natürlich sah Andy Archer seine Zukunft in die Brüche gehen nach den Veröffentlichungen bezüglich seiner aufdringlichen Homosexualität. Man darf nicht vergessen, dass sich diese Geschichte zu Beginn der siebziger Jahre abspielte. Die Folge war, dass er bei RNI nie wieder zum Zuge kam, obwohl er noch zweimal auf der Station zu hören war. Das erste Mal  in einer sogenannten Link-Up-Sendung zwischen Radio Caroline und RNI während der Weihnachtsfeiertage 1973. Das zweite Mal während der letzten Sendestunde von RNI. Er gab damals eine Übersicht von allen internationalen DJs, die seit 1970 bei der Station gearbeitet hatten. In den darauf folgenden Jahrzehnten hat Archer eine große Anzahl Arbeitgeber gehabt, darunter zwei Perioden bei der Caroline-Organisation und Radio Seagull. Jedes Mal bekam er wieder auf die eine oder andere Art Probleme.

Noch immer ist er in England aktiv. So arbeitete er bei Stationen wie Radio Orwell, Devonair Radio, Radio Nova Dublin, Leicester Centre Radio, Invicta Radio und Mellow 1557. Heutzutage arbeitet er bei BBC Radio Norfolk, und ist damit in die Gegend seines Geburtsortes zurückgekehrt, wo er am 22. Januar 1946 in Terrington St. Clement geboren wurde.

Die Firma MEBO schließlich schickte noch einen Brief an die niederländischen Behörden als Versuch, die Sache richtigzustellen, und ließ dies auch die Hörer von Radio Noordzee wissen. Am 4. Oktober 1971 wurde auf 220 Meter in den Nachrichten der folgende Text durch Hans ten Hoge verlesen: „Die Firma MEBO Ltd. aus Zürich, Eigentümer der MEBO II, hat heute Morgen in einem Brief an die niederländische Regierung kurzfristig eine vollständige Untersuchung gefordert, um allen Spionage-Verdächtigungen, die vom Sendeschiff von Radio Noordzee ausgehen, ein definitives Ende zu bereiten. Das war Hans ten Hoge für die Radio Noordzee Nachrichten. Die folgende Sendung beginnt um sechs Uhr.“

Original-Titel: "Het spionageverhaal van Andy Archer"
Fotos: © Archiv Hans Knot, Theo Dencker

Aus RADIOJournal 10/2006