Die Voice of Peace
Eine Artikelserie von Hans Knot
Themen-Special der Redaktion RADIOJournal


Die Voice of Peace (Teil 02)

Wer ist Abie Nathan? - Zweiter Teil

von Noam Tal

Gleich nach seiner Ankunft in London wurde Abie nach Paris geschickt, wo er mit weiteren Freiwilligen aus aller Welt zusammentraf. Er erhielt den Auftrag, eine Norsman-Maschine in die Tschechoslowakei zu fliegen und von dort aus weiter nach Israel. Sei Kopilot war ein polnischer Jude namens Grisha, der nicht ein einziges Wort Englisch sprach. Nur mit größter Mühe lokalisierten die beiden den tschechoslowakischen Flughafen Zatt. Als sie nach ihrer Landung im Hotel Stalingrad eintrafen, wurden sie von 200 Piloten aus aller Herren Länder - die Mehrzahl waren Juden - mit Applaus begrüßt. In seinen Memoiren sprach Abie vom Stolz und dem Gefühl der Zugehörigkeit, die er als Teil dieser Gruppe empfand.

Im Laufe der folgenden zwei Wochen flog er neunmal mit Waffenladungen von Europa nach Israel. Kurze Zeit später diente er als Kampfpilot im Geschwader 103 in Ramat David. Seine Missionen umfassten das Anfertigen von Luftaufnahmen sowie die Bombardierung feindlicher Armee-Einheiten und arabischer Dörfer. Die Araber sollen vor dem Beginn eines Waffenstillstandes zur internationalen Grenze flüchten, so das erklärte Ziel dieser Angriffe. Abies Dakota-Flieger war für Bombardements nicht geeignet, so dass die Crew die Bomben durch die offen stehende Tür hinauswerfen musste. In seinen Erinnerungen schreibt er: "In Sansa gab es keine Flugabwehr. Wir bombardierten das Dorf aus einer Höhe von 3000 Fuß und fühlten uns dabei völlig sicher." Zwei Tage später besuchte Abie das zerstörte Dorf: "Ich lief durch die Ruinen und sah die Leichen, die überall herumlagen. Ich sah, wie viel Tod und Zerstörung ein Pilot mit seinen Bomben anrichten kann. Ich sah mit meinen eigenen Augen, was ich getan hatte, und stürzte in eine tiefe Depression."

Das Ziel von Abies nächstem Bombenangriff war das Dorf Tarshiha. Im Jahre 1995 traf er im Rahmen einer investigativen CNN-Reportage mit einer alten arabischen Dame zusammen, die bei dem Angriff 47 Jahre zuvor verletzt wurde und seither dauerhaft verkrüppelt war. Abie empfand eine persönliche Verpflichtung dieser Frau gegenüber. Er half ihr beim Kauf eines motorisierten Rollstuhls und weiterer Gegenstände für ihren Haushalt. Seither riss der Kontakt nicht ab, und nachdem Abie krank geworden war, besuchte die Dame ihn in seinem Haus in Tel Aviv.

Einige Tage nach der Bombardierung Tarshihas ging Abie auf seine letzte Mission. Er sollte ägyptische Einheiten angreifen, die in Israel einmarschiert waren. Doch Abie konnte die Ziele nicht ausfindig machen, und weil er fürchtete Zivilisten zu treffen, warf er die Bomben über dem Meer ab. Am gleichen Tag begann der Waffenstillstand und der Krieg war vorbei. Abie blieb bei der Luftwaffe. Er transportierte Fallschirmspringer, nahm an Trainingskursen teil und wurde nach England geschickt, wo er im Umgang mit modernen Kampffliegern ausgebildet wurde. Viele Jahre später erzählte er, dass er seinerzeit gerne Kommandeur einer Heeresfliegerstaffel geworden wäre. Er schaffte diesen Karriereschritt jedoch nicht, weil er als "neuer Einwanderer" stets außerhalb der Kreise war, die befördert wurden, und insgesamt noch keinen Einblick hatte in die Art und Weise, wie bestimmte Dinge in Israel gehandhabt wurden.

Abie begegnete im Jahre 1950 Rosie Schwartz, und zehn Tage später heirateten die beiden. Die junge Familie Nathan bekam bald Nachwuchs: eine Tochter namens Sharona. Allerdings endete die Ehe schon nach einem Jahr mit einer einvernehmlichen Scheidung. Abie und Rosie hielten danach einen freundschaftlichen Kontakt aufrecht.

Abie verließ alsbald die Luftwaffe im Range eines Hauptmanns und ging zur Fluglinie El AL, die gerade gegründet worden war. Während dieser Zeit lernte er das gute Leben eines zivilen Flugkapitäns kennen. Er nahm an den Transporten von Juden aus dem Iran nach Israel teil und flog oft auf der Linie Tel Aviv - London - New York. Abie lebte in London, verbrachte Zeit in Paris und Rom, spielte Golf, reiste viel und genoss das Leben. 1956 untersagte man ihm wegen seiner dunkelfarbigen Haut den Flug nach Südafrika. Als Kapitän folgte er genau den Vorschriften, was bisweilen dafür sorgte, dass sich Flüge verspäteten. Einmal hob er mit einer leeren Maschine ab, weil seine Crew übermüdet war. Vorfälle wie diese führten zu Auseinandersetzungen und schließlich zu einer erzwungenen Kündigung im Dezember 1958.

Mit der Abfindung, die ihm El AL zahlte, gründete Abie - gemeinsam mit anderen Piloten - "The California", ein Restaurant im Zentrum von Tel Aviv. Allerdings gestalteten sich die ersten Jahre als Restaurantbesitzer schwierig. Abie war das schöne Leben gewohnt und musste nun Arbeiten verrichten, mit denen er nicht vertraut war. Doch Schritt für Schritt verbesserte sich die Situation. Das Restaurant boomte, Abie kaufte seinen Miteigentümern die Anteile ab und war bald alleiniger Besitzer. Das "California" lag neben einem der größten Theater der Stadt, so dass viele Theatergänger vor und nach den Aufführungen dort saßen und über Politik diskutierten. Das Restaurant wurde bald zum Treffpunkt der Boheme Tel Avivs. Abie wurde zu einer festen Größe im Nachtleben der Metropole, erwarb eine Kunstgalerie und einige weitere Geschäfte. Nach kurzer Zeit war er reich und berühmt. Er schmiss verschwenderische Partys für seine vielen Freunde und half denen, die in Not waren, auf großzügige Weise. Er stiftete Stipendien, die nach gefallenen Piloten aus dem Unabhängigkeitskrieg benannt waren, unterstützte Schauspieler in Not und half bedürftigen Familien. Viele Male erzählte Abie später, dass er den Beginn seines sozialen Einsatzes der Bekanntschaft mit einer Angestellten des "California" verdankte, aus der bald eine Romanze werden sollte. 1962 arbeitete nämlich eine spanischstämmige Tellerwäscherin im Restaurant. Abie verliebte sich in sie, und die beiden wurden ein Paar. Von ihr, so Abie, habe er gelernt, empfindsam für andere Menschen zu sein. Sie war intelligenter als er, machte ihn mit schöngeistiger Literatur bekannt (Lorca) und brachte ihn dazu, Bilder zu malen. Die Beziehung dauerte zwei Jahre, an deren Ende sie Israel verließ. Abie wollte sich nicht damit abfinden und versuchte sie in Madrid zur Rückkehr zu bewegen. Dort stellte er allerdings fest, dass sie verlobt war, und fand, dass er nichts mehr in Spanien zu suchen habe. Er fasste den spontanen Entschluss nach Skandinavien zu reisen und blieb dort sechs Monate lang. Erst als er hörte, dass seine Geschäfte in Schieflage geraten waren, kehrte er zu seinem aktiven Leben nach Tel Aviv zurück.

Mitte der 60er Jahre hatte der junge Staat Israel eine relativ ruhige Periode. Die Menschen gingen häufig ins Theater und beschlossen ihren Arbend mit einem Restaurantbesuch. Das Geschäft florierte, und Abie saß an der Kasse und sorgte dafür, dass niemand zu zahlen vergaß. Eines Abends entwickelte sich eine Diskussion über die möglichen zukünftigen Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern. Abie saß zunächst abseits, mischte sich aber schließlich in die Debatte ein und äußerte seine Meinung. Er erntete nichts als Gelächter. "Du solltest lieber Hamburger verkaufen und die Kasse bewachen", riet man ihm. Abie fühlte sich angegriffen. Am Ende des Abends trat jedoch ein anwesender Journalist auf ihn zu und meinte: "Von allen hier warst du der einzige, der rational und einfühlsam gesprochen hat."

Abie ließen diese Worte nicht mehr los und er entschied sich zu handeln. Für Ende 1965 standen Wahlen zur Knesset, dem israelischen Parlament an, und Abie ließ sich aufstellen. Sein Wahlprogramm bestand aus einem Bekenntnis zum freien Wirtschaften und Vorschlägen, wie man den Armen helfen könne. Außerdem versprach er im Falle seiner Wahl nach Ägypten zu fliegen - damals Israels größter Feind - und mit Staatschef Gamal Abdel Nasser über den Frieden zu sprechen. Seine Partei nannte er NES, was auf Hebräisch "Wunder" bedeutet, und es gab viele, die die Meinung äußerten, es bräuchte schon ein gewaltiges Wunder, damit Abie gewählt würde.

Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses stellte sich heraus, dass ihm lediglich ein paar Tausend Stimmen zum Wahlerfolg fehlten. Abie befürchtete, er würde seine Unterstützer enttäuschen und erklärte öffentlich, dass er trotz der Wahlniederlage nach Ägypten fliegen würde, wenn ihn nur 100.000 Menschen durch ihre Unterschrift unterstützten. Viele glaubten, das sei nur eine seiner politischen Spielereien - aber Abie war es toternst. Er mietete einen Steerman-Flieger, Baujahr 1927, strich diesen weiß an und schrieb das Wort "Friede" auf Hebräisch, Englisch und Arabisch darauf. Gleichzeitig erneuerte er seine Pilotenlizenz und begann mit dem Flugtraining.

Am Morgen des 28. Februar 1966 erfüllte Abie sein Versprechen und flog nach Ägypten. Nur wenige Menschen, darunter der Journalist Tzvi Elgat, kannten den genauen Zeitpunkt des Starts. Abie flog die Maschine in sehr niedriger Höhe, nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, um die Radarstellungen der israelischen Luftwaffe zu überlisten. Als er bereits über ägyptischem Territorium war, stellte er fest, dass ihm der Treibstoff ausging. Da sah er auf einmal den Flughafen von Port Said. Direkt nach der Landung wurde er von den ägyptischen Behörden vernommen. Die Nachricht von dem Treibstoffmangel und seiner abrupten Landung wurde fälschlich als Crash weitergegeben und es hieß, Abie sei dabei ums Leben gekommen. Als die Medien später vermeldeten, dass er in Wirklichkeit sicher gelandet war, jubelten Tausende, die sich vor dem "California" versammelt hatten.

Am nächsten Tag kehrte er nach Israel zurück und wurde schon im israelischen Luftraum von der Luftwaffe des Landes eskortiert. Mehrere tausend Menschen erwarteten ihn am Flughafen. Nach einer Befragung durch die Polizei hielt er sogleich eine Pressekonferenz ab. Obwohl Abie durch diese Tat weltweit berühmt wurde, fielen die Reaktionen gemischt aus: Einige hielten ihn für publicitygeil, für jemanden, der alles tun würde, um seinen Namen in der Zeitung zu lesen. Andere lobten seine Aktion. David Ben-Gurion, Israels erster Premierminister, schrieb in einem Beitrag über den Ägyptenflug für die Zeitung "Davar": "Es war ein Ereignis von moralischer und politischer Wichtigkeit, welches Respekt verlangt und keinen Spott."

Abie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, und ging auf eine Tour nach Europa und die Vereinigten Staaten, um den Friedensprozess zwischen Juden und Arabern voranzubringen. Er traf sich mit politischen Führern und Schriftstellern, darunter Papst Pius VI. (am 14. März 1966), der ihm eine Friedensmedaille verlieh, dem Philosophen Bertrand Russel, Senator Robert Kennedy und anderen politischen Persönlichkeiten. Der Flug nach Ägypten veränderte Abies Leben: Vom Wirt, der Hamburger an die Künstlerschaft von Tel Aviv verkaufte, wurde er zum idealistischen Kämpfer seiner Ideale. Seit diesem Zeitpunkt gab er all sein Vermögen und all seine Kraft den Ideen, deren Umsetzung sein Leben bestimmen sollten: der humanitären Hilfe für Menschen in Israel und anderen Ländern, dem Dialog zwischen Juden und Arabern und dem gewaltlosen Kampf für Frieden und Menschenrechte.

Nach seiner Rückkehr aus Europa und den USA im Juni 1966 organisierte er jüdische und arabische Aufmärsche von Tel Aviv nach Jerusalem, um für sein Friedenskonzept zu werben. Er traf sich mit öffentlichen Figuren wie Levy Eschkol (Israels Premierminister) und David Ben-Gurion (am 26. Juni 1966) in der Hoffnung, die beiden würden seine Vorstellungen unterstützen. Am 28. Oktober 1966 flog er nach Indien und half den Menschen, die von der Dürre in Bihar geflüchtet waren. In der Stadt Patena mietete er einige LKW und verteilte drei Tage lang zehn Tonnen Getreide an die Bewohner von 35 Dörfern. In einem Interview vom 27. November 1966 sagte er: "Kinder und Erwachsene suhlten sich im Straßendreck, um ein paar Körnchen Getreide aufzulesen, die vom Truck gefallen waren. Das Ziel der Operation war es, bei den reichen Leuten in Indien für Aufmerksamkeit zu sorgen, so dass diese ihren eigenen Landsleuten helfen."

Am 22. Oktober 1966 traf sich Abie mit der indischen Premierministerin Indira Gandhi. Er bat sie, sich für bessere Beziehungen zwischen Juden und Arabern einzusetzen sowie die Grundlagen für diplomatische Beziehungen zwischen Indien und Israel zu schaffen. Nach seiner Rückkehr nach Israel gründete Abie die "Peace Foundation" ("Friedensstiftung"). Er kaufte in London ein leichtes Flugzeug, das zuvor König Hussein von Jordanien gehört hatte, und flog es nach Zypern in der Absicht, es nach Israel zu transportieren. All dies geschah unmittelbar vor dem Ausbruch des Sechstagekrieges. Die israelischen Behörden befürchteten, Abie würde damit in Feindesland fliegen wollen, und untersagten ihm die Einfuhr nach Israel. Sein Antrag, als Freiwilliger bei der Luftwaffen-Reserve zu dienen, wurde ebenfalls abgelehnt.

Abie erzählte später manchmal, dass ihm die Idee zur Gründung der "Voice of Peace" kam, als er in einem Hotel auf Zypern saß und aufs Meer schaute. Aus einem Radiolautsprecher kam die Meldung, dass der Krieg vor der Tür stünde. Die Araber prahlten, sie würden die Israelis ins Meer treiben, was von den israelischen Medien zitiert wurde. "Wie kann ich die Menschen erreichen und sie beruhigen?" dachte er. "Wenn ich nur einen Radiosender hätte... Aus Israel oder von Zypern aus darf ich nicht senden. Aber vielleicht ginge es von einem Schiff außerhalb der territorialen Gewässer. Wir werden den Sender 'The Voice of Peace' nennen. Wir werden zu den Menschen sprechen und sie bestärken."

Übersetzung aus dem Hebräischen ins Englische: Gil Rechtman
Übersetzung ins Deutsche: Thomas Völkner

Aus RADIOJournal 10/2007