Die Voice of Peace
Eine Artikelserie von Hans Knot
Themen-Special der Redaktion RADIOJournal

Die Voice of Peace (Teil 01) 
Wer ist Abie Nathan? - Erster Teil
von Noam Tal

Abie Nathan wurde am 29. April 1927 in der persischen Stadt Abadan (im heutigen Iran) als drittes Kind einer traditionellen jüdischen Familie geboren. Sein Vater Jacob stammte aus Sana'a im Jemen und hatte für die Anglo-Iranische Ölgesellschaft gearbeitet, ehe er mit Erfolg einen Handel mit Leinenstoffen begann. Seine Mutter Matilde war Hausfrau. Es war eine reiche Familie. Ein Bruder und eine Schwester folgten auf Abie.

Mit seiner Geburt sind zwei seltsame Geschichten verbunden, die ein Verwandter nach Abies Friedensmission im Jahre 1966 an die Tageszeitung "Maariv" weitergab: Zum einen kam Abie mit einem Geburtsmal auf die Welt. Ein Fachmann wurde zu Rate gezogen, um die Bedeutung des Mals zu erläutern. Er meinte, es sei ein Omen dafür, dass das Kind ausersehen sei, große Dinge zu erreichen. Der anderen Geschichte zufolge habe Abie es abgelehnt, an der Brust seiner Mutter zu trinken. Als seine Eltern daraufhin eine Kuh melken wollten, gab das Tier keine Milch.

Abie erinnerte sich sowohl in seiner Autobiographie als auch in verschiedenen Radioprogrammen auf der Voice of Peace an eine glückliche Kindheit und ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn, die seiner Familie mit Ehrfurcht begegneten. Er beschrieb oftmals die Mahlzeiten am Sabbat, bei denen sein Vater am Kopf des Tisches saß und die Kinder ihm Respekt zollten, sowie die Spaziergänge am Samstagvormittag zur Synagoge. Abie war in einen Gebetsschal gehüllt, und die muslimischen Nachbarn grüßten die Familie auf ihrem Weg. Er erinnerte sich auch an die Gebete aus der Tora, die auf Englisch gesprochen wurden. Während der heißen Sommernächte lag Abie häufig auf dem Dach des Hauses und beobachtete die Sterne. An einem Abend kam sein Vater zu ihm und sagte: "Mein Sohn, wenn du den Mond erreichen willst, musst du nach den Sternen greifen."

Obwohl Abie seine Kindheit als "glückselig" bezeichnete, hatte er stets den Eindruck, "das schwarze Schaf der Familie" zu sein. Er war immer derjenige, dem man die Schuld für etwas zuschob. Abie ist zudringlich, verzogen und stur - der Eindruck hat somit vielleicht etwas mit seiner Ichbezogenheit zu tun. In einem Interview beschrieb er einmal, dass er als Kind kein Spielzeug besaß, von klein auf alleingelassen wurde und lernen musste, auf sich selbst aufzupassen.

Im Alter von sechs Jahren wurden Abie und sein jüngerer Bruder Raymond auf die Saint-Mary-Schule in Bombay geschickt - ein angesehenes katholisches, von Jesuiten geführtes Internat. Die Schule war für die reichen Leute und für die Kinder der in Indien ansässigen Briten. Abie wohnte im Internat, während Raymond bei einer Tante untergebracht war. Allerdings verschlechterte sich die finanzielle Situation der Familie und Abie zog ebenfalls ins Haus seiner Tante - ein Umzug, der ihm ein Gefühl von Verlust vermittelte. In einem Interview, das er 1966 der Teenagerzeitschrift "Maariv Lanoar" gab, wagte er es über seine Schulzeit zu sprechen: "Meine Eltern wollten von Persien nach Israel auswandern, zogen aber auch Indien und England in Betracht. (...) Auf [Saint Mary's] wurde mir klar, dass ich Jude bin, aber ich wurde nicht gezwungen, Hostien zu essen."

In einem anderen Interview beschrieb Abie, wie er sich als Kind in die christlichen Riten verliebte und wie sehr es ihn verletzte, dass er nicht im Kirchenchor mitsingen durfte. Darüber hinaus beschrieb er, wie er einmal "Juden-Junge" gerufen und von einem Stein getroffen wurde, der sein Gesicht verletzte und eine schlimme Blutung hervorrief. Einer der Lehrer - Pfarrer Conti - bekam den Vorfall mit und fragte Abie, was denn passiert sei. Die Antwort darauf war: "Ich bin über einen Stein gestolpert." Die anderen Kinder waren über Abies Verhalten froh und ließen ihn fortan in Ruhe. Abie traf Pfarrer Conti 1966 wieder, als der Priester schon fast 80 Jahre alt war. Conti verriet ihm, dass er diesen Vorfall seinen späteren Schülern als vorbildliches Verhalten vorführte.

Aufgrund der 1939 einsetzenden politischen Krise in Persien verließen die Nathans Abadan und zogen nach Indien. Obwohl ihre Geldsorgen größer wurden, bestärkten die Eltern Abie, weiter zu lernen und zu studieren, um Erfolg im Leben zu haben. Allerdings entdeckte Matilda Nathan eines Tages, dass ihr Sohn eine Sammlung christlicher Bildnisse angelegt hatte. Daraufhin schickte sie Abie auf eine jüdisch-zionistische Schule, die nach Sir Jacob Sassoon benannt war. Abie und seine Mitschüler erhielten auf dieser Schule eine zionistisch ausgelegte Erziehung, die politisch rechtslastig war. Sie sangen zum Beispiel "Der Jordan hat zwei Ufer / das eine gehört uns [dem jüdischen Volk] / und das andere gehört uns auch." Während der Sommerferien fuhren alle Schüler ins Zeltlager, wo man ihnen Lieder in hebräischer Sprache beibrachte. Viele Jahre später verriert Abie, dass sein Lieblingslied "Veoli" ("Vielleicht") von Rachel ist.

Abie erinnert sich, dass er schon als Teenager sehr klaren Idealen nachhing und eine Führungspersönlichkeit sein wollte. Im Alter von 14 gewann er den ersten Preis beim politischen Debattieren in einer Schule der jüdischen Gemeinde von Bombay. Das Thema, über das er sprach, war die Errichtung eines jüdischen Staates. Wahrscheinlich fiel Abies Name aus diesem Anlass erstmalig in der Presse. Abie erläuterte, dass er trotz seines eher boshaften Verhaltens seine Studien fortsetzen wollte, um Rechtsanwalt oder Ingenieur zu werden. Seine Freunde und Verwandte aus jener Zeit beschreiben ihn als eifrig und stets ins Lernen vertieft. Kurz vor der Beendigung der Schulausbildung organisierte Abie einen Schülerstreik als Protest gegen das Verhalten eines Englischlehrers, der antisemitische Bemerkungen fallengelassen hatte.

Im August 1943 - das Ende des Zweiten Weltkrieges schien noch in weiter Ferne zu liegen - rekrutierte die Britische Armee in Indien Freiwillige. Der 16-jährige Abie las in der Zeitung die Anzeige, in der 18-jährige Volunteers eine Pilotenausbildung bei der Royal Air Force angeboten wurde. Voller Abenteuerlust ging er zur Musterung, wurde jedoch wieder nach Hause geschickt. Zwei Wochen später kehrte er zurück, gab ein falsches Alter an und wurde eingezogen. Abie nahm am 27. Ausbildungslehrgang der Royal Indo-British Air Force teil. Nach fünf Monaten der Vorbereitung in einer Kaserne in Poona (Pune) wurde er zum Stützpunkt Ambala in Nordindien geschickt. Seinen ersten Soloflug absolvierte er in einer Tiger Moth. 1945 erhielt er sein Pilotenabzeichen und begann die Ausbildung als Hurricane- und Howard-Bomberpilot. Ein Jahr später lernte er eine Spitfire zu fliegen. In seiner Kaserne dienten einige jüdische Piloten, was Abie dazu brachte, gemeinsame Treffen in seinem Zelt zu organisieren und für die Kameraden am Freitag zu kochen. Die Piloten saßen dann zusammen, aßen gemeinsam und sangen Lieder zum Sabbat.

Ende 1946 fiel die Entscheidung, Abies Einheit nach Japan zu verlegen. Der junge Pilot wollte dies jedoch nicht und erreichte mithilfe des Drucks einiger Führer der jüdischen Gemeinde seine Entlassung aus den Streitkräften - aus "sozialen Gründen", wie es hieß. Abie ging zurück nach Bombay und mietete gemeinsam mit einem Freund ein Apartment im vornehmen Stadtteil Colabba. Da er eine zivile Fluglizenz besaß, flog er für die private Gesellschaft Ambica Airlines auf Dakota- und Beachcraft-Flugzeugen.

Am 15. August 1947 wurde Indien in zwei separate Staaten aufgeteilt: Indien und Pakistan. Der indische Premierminister Pendit Nehru appellierte an alle Fluggesellschaften, beim Transfer der hinduistischen Bewohner Pakistans nach Indien zu helfen. Ambica nahm an dem Transfer teil, und so war Abie an vielen Flügen aktiv als Kopilot an Bord. In seinen Erinnerungen berichtet er von der großen räumlichen Enge, dem Drängeln und vielen Fällen von Grausamkeit, die er beobachtete. Die Piloten schüttelten oftmals Flüchtlinge, die sich mit Gewalt Zutritt zu den Fliegern verschaffen wollten, ab, indem sie die Maschinen anließen. Auf einem der Rettungsflüge wären die Piloten beinahe getötet worden, als ein pakistanischer Polizist seine Waffe auf sie richtete, um seinen Befehlen Nachdruck zu verleihen. Daraufhin gingen derart viele Flüchtlinge an Bord, dass das Flugzeug am Ende der Piste Schwierigkeiten bekam, überhaupt in die Luft zu gehen. Abie reagierte geschockt und hatte einen Nervenzusammenbruch. Er sagt, dass er während des gesamten Fluges dasaß und weinte. Nach der Landung in Indien wurde er in ein Krankenhaus eingewiesen und drei Wochen lang gesund gepflegt. Die indische Presse berichtete über die gewaltsamen Übergriffe während der Evakuierung, und Abie wurde vom Premierminister am Krankenbett aufgesucht - ein Besuch, der in den Zeitungen vermeldet wurde.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verließ Abie Ambica Airlines und flog fortan für Air India. Während seiner Zeit dort hörte er von der Gründung des Staates Israel und der bevorstehenden Invasion der arabischen Armeen. Abie wandte sich an die Jewish Agency, die Freiwillige suchte, und äußerte seinen Willen, bei der Verteidigung des junges Staates zu helfen. Einige Tage später erhielt er die Bestätigung: Seine Hilfe wurde angenommen. Er kündigte bei Air India und reiste mit seinen Ersparnissen - 250 Pfund - nach London. Jahre später erzählte er den israelischen Medien von den Umständen seiner Abreise: "Ich stellte mir vor, ich würde nach Israel gehen, um meinen Beitrag zu leisten. Der Krieg würde nach drei Monaten zu Ende sein, und danach würde ich meine Arbeit bei Air India wieder aufnehmen." Ahron Cohen, der Abie noch aus seiner Zeit in Indien kennt, sagte in einem Presseinterview: "Abie ist ein impulsiver Mann. Aber wenn er einmal zugesagt hat, kann er keinen Rückzieher mehr machen - auch wenn er seine gegebene Zusage bedauert. (...) Eines Tages trafen wir jemanden in Indien auf der Straße, der sagte: 'Du bist jüdisch - komm nach Israel', und drei Tage darauf verließ Abie Indien."

Übersetzung aus dem Hebräischen: Gil Rechtman 
Übersetzung ins Deutsche: Thomas Völkner

Aus RADIOJournal 9/2007