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"Briefe, die uns nie erreichten" - Das »Klingende Sonntagsrätsel« und die Zuschriften aus der DDR

Ende des Jahres 2000 klingelte bei mir im DeutschlandRadio Berlin das Telefon. Wer war dran? Die „Gauck-Behörde“. „Herr Bienert - wir haben Post für Sie!“ ­ „Was bitte haben Sie?“. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Mein Antrag auf Akteneinsicht schlummerte immer noch in einem meiner gewaltigen Papierberge, ich hatte ihn noch nicht mal ausgefüllt, geschweige denn abgeschickt. „Wir haben Post für Sie! Zwei große Metallkoffer mit einer Unmenge von Karten und Briefen zum »Klingenden Sonntagsrätsel« im RIAS - adressiert an Hans Rosenthal, seine engste Mitarbeiterin Marlies Kahlfeldt und an Sie - Christian Bienert“. Ich konnte es nicht glauben. „Wo kommen die denn nach mehr als zehn Jahren her?“ ­ „Eine lange Geschichte“, antwortete die freundliche Dame, „am besten, Sie kommen mal mit Frau Kahlfeldt vorbei“.

Angefangen hatte alles viel, viel früher. Am 7. März 1965 startete der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) eine neue Sendereihe: »Das Klingende Sonntagsrätsel«. Sechs Melodien wurden gespielt. Zu jeder stellte Hans Rosenthal eine Frage. Die Antwort war jeweils ein Buchstabe. Zusammengesetzt ergaben sie dann das Lösungswort. Und wer die richtige Lösung an den RIAS schrieb, konnte - mit etwas Glück - gewinnen.

Von der ersten Sendung an war das »Sonntagsrätsel« ein voller Erfolg. Die Beteiligung war erheblich höher, als man sich erhofft hatte. Rund 93 Prozent der Post kamen aus West-Berlin, ein Prozent aus dem Gebiet um Hof - der RIAS hatte dort ebenfalls Sender - und sechs Prozent aus der DDR. Sei es ohne Absender mit einer westlichen Hilfsadresse (meist ein Verwandter oder Freunde in der Bundesrepublik oder West-Berlin), sei es nur mit einem Kennwort als Absender. Die Zuschriften aus der DDR waren für den RIAS besonders wichtig, boten sie doch eine der wenigen Möglichkeiten, herauszufinden, ob und wie der RIAS wo gehört wurde.

Während meines Studiums stieg ich in das Schreiben des »Sonntagsrätsels« ein. Ich sprach mit Hans jede Woche die Musiken ab, machte die Aufnahmeleitung und mühte mich mit den Zwischentexten. Er hatte eine gewaltige Geduld mit mir - auch wenn ihm oft der Faden riss: Meine Schreibe war nicht seine Spreche, seine Spreche konnte ich nicht schreiben. Es war, als wolle man zwei Eisenbahnzüge - aus verschiedenen Richtungen kommend - gleichzeitig in ein Gleis münden lassen. Irgendwann war es dann soweit: Ein Zug, und er fuhr auf einer Strecke. Hans stand auf dem Führerstand, ich schippte Kohle. Die Sendung lief und lief. Auch als der RIAS - ich weiß nicht, zum wievielten Male - seine Hörer wieder einmal neu entdecken wollte und wieder einmal Beliebtes und Erfolgreiches aus dem Programm flog, das »Sonntagsrätsel« blieb. Die Sendung war der Hörerpostrenner!

Es war 1986 - Hans Rosenthal war schon nicht mehr Chef der RIAS-Unterhaltungsabteilung, er hatte seine eigene Produktionsfirma und machte fast nur noch Fernsehen. Doch sein »Sonntagsrätsel« moderierte er weiter. Jetzt als freier Mitarbeiter. Und da geschah das, womit keiner gerechnet hatte, und das Einzige, wovor Hans in seinem Leben wirklich Angst hatte: Er wurde schwer krank. „Dalli, Dalli“ im ZDF musste abgesagt werden, beim »Sonntagsrätsel« - es war in über zwanzig Jahren noch nie ausgefallen - setzte ich Wiederholungen alter Sendungen ein. Zwei, drei Mal ging das gut, dann vertrat ich ihn am Mikrofon.

Hans kam langsam wieder auf die Beine und erholte sich halbwegs. Einer seiner ersten Wege führte ihn in den RIAS, um sein »Sonntagsrätsel« aufzunehmen. Am 21. November 1986 erwarteten ihn im RIAS-Studio zwei Waschkörbe voller Genesungswünsche und mehr als zwanzig Journalisten und Fotoreporter. Die Tontechnikerin, der Toningenieur und ich - wir hatten kaum Platz.

Sieben Wochen lang moderierte Hans sein Rätsel, zuletzt am 11. Januar 1987. Es war die 1.071. Sendung. Am 10. Februar 1987 starb Hans Rosenthal. Drei Tage später saß ich zum ersten Mal beim »Sonntagsrätsel« am Mikrofon, ohne dass Hans mir im Krankenhaus kritisch zuhörte, und musste den Hörern sagen: „Es wird nie wieder eine Sendung geben von und mit Hans Rosenthal“.

Hans hatte gehofft, sein »Sonntagsrätsel« würde weitergehen. Der damalige RIAS-Intendant, Dr. Peter Schiwy, und der langjährige RIAS-Programmdirektor, Prof. Herbert Kundler, respektierten diesen Wunsch und baten mich, das »Sonntagsrätsel« weiterzuführen. Bei einer so stark personengebundenen Sendung konnte ich das nur schaffen, wenn die Hörer mir halfen. Und sie haben geholfen. Mehr als das! Obwohl die meisten, die hätten schreiben wollen, nicht schreiben konnten oder ihre Post nicht bei uns ankam - die Hörerbindung riss nicht ab, die Menge an Post blieb gleich.

Bis 1989. Noch im September bekam das »Sonntagsrätsel« rund 12.000 Zuschriften. Davon zirka 500 aus der DDR. Dann öffnete sich die Mauer und damit die Schleusen, die den ungehinderten Postverkehr zwischen Ost und West so lange eingedämmt hatten. Der RIAS wurde von einer wahren Brief- und Kartenlawine überrollt: Waren es im November noch rund 40.000 Zuschriften, so stieg die Zahl im Dezember auf 54.000. Im Januar 1990 erreichten den RIAS rund 155.000 Zuschriften - davon rund 126.000 aus der DDR. Im März 1990 bekamen wir 355.000 Briefe und Karten, davon 330.000 aus der DDR. Ein einmaliges Phänomen in der deutschen Rundfunklandschaft.

Zum »Sonntagsrätsel« schrieben die Menschen jetzt viel mehr als nur das Lösungswort. Oft ganze Lebensgeschichten. Viele Male habe ich gelesen: „Wir haben in der DDR Bilanz gezogen - wir machen jetzt endlich das, was wir wollen“ oder: „Was wir immer wollten!“ All dieses Zögern, dieses tastende Umgehen mit den politischen Verhältnissen spiegelte sich wider in den Briefen an eine völlig harmlose, unpolitische Sendung wie das »Sonntagsrätsel«. Es war - wie der RIAS überhaupt - über lange Jahre zu einem Freund geworden, dem man sich gerne anvertraut.

Ich saß damals im RIAS in der Sendeleitung. Als Leiter vom Dienst im Schichtdienst. Entweder 8 bis 16, 16 bis 0 oder 0 bis 8 Uhr. Das »Sonntagsrätsel« machte ich nebenbei. Eine liebenswerte Kollegin, Christa Kohl, sichtete wöchentlich die Post zum Rätsel. Anfragen schickte sie mir per Hauspost. Die Beantwortung erledigte ich dann mit Marlies Kahlfeldt aus der Abteilung Unterhaltung. Damit war jetzt Schluss. Waren bislang zehn bis zwanzig zu bearbeitende Briefe gekommen, kamen jetzt Hunderte pro Woche. Und immer wieder die Frage: „Kommt denn unsere Post nun wenigstens an? Jetzt wird doch hoffentlich nicht mehr abgefangen Gebt mal ein Zeichen - meldet Euch!“

Hans Rosenthal hatte mir, als wir über Post sprachen, immer wieder gesagt: „Glaub mir, mein Junge“, - er sagte immer „mein Junge“ zu mir ­ „wenn die Menschen aus der DDR uns schreiben könnten, wenn ihre Post durchkäme, wir würden in Zuschriften ersticken“. Ich habe damals nur „Jaja“ gesagt. Und als ich dann erstickte, konnte ich ihm nicht mehr sagen, wie Recht er gehabt hatte.

Nie waren mir Anfragen zum »Sonntagsrätsel« wichtiger als in dieser Zeit. Diese Post, diese Briefe von Menschen, die all die Jahre nicht hatten teilnehmen können, mussten sofort beantwortet werden. Das sah im RIAS leider nicht jeder so. Ich hatte größte Schwierigkeiten, Marlies Kahlfeldt, die noch mit anderen Arbeiten betraut war, die aber praktisch jeder hätte machen können, ausnahmslos für das »Sonntagsrätsel« zu bekommen. Ich begann zu verzweifeln. Der RIAS hatte jahre-, jahrzehntelang für die zwangsweise schweigende Mehrheit gesendet, immer ins Blaue hinein. Und nun konnten diese Menschen sich endlich melden, wollten ein Zeichen, und ich sollte es nicht geben können. Ich höre meinen damaligen Vorgesetzten leider heute noch: „Herr Bienert, wir sind doch kein Schreibbüro!“

Mein Programmdirektor war zu dieser Zeit Siegfried Buschschlüter. Er half mir. Er nahm mich beim Leiter vom Dienst aus dem Schichtdienst und steckte mich zusammen mit Marlies Kahlfeldt in ein Büro. Und da legten wir los. Manchmal kamen wir uns wirklich vor wie in einem Schreibbüro. Trotz - ich glaube zwanzig - verschiedener Standardbriefe: Es blieb immer noch mehr als genügend zu tun. Keinen Abend kamen wir vor zehn nach Hause. Morgens um acht ging’s weiter. Ich hätte fünf Marlies Kahlfeldts gebraucht.

Christa Kohl, die all die Jahre den Posteingang spielend allein bewältigt hatte, saß nebenan. Mit ihr in Spitzenzeiten acht Studentinnen und Studenten - jeder mit vier bis fünf Sortierkästen, prall gefüllt mit Briefen und Karten. Doch nicht nur wir waren auf Aushilfskräfte angewiesen: In der Schöneberger Hauptstraße, in dem für den RIAS zuständigen Postamt, gab es ebenfalls Verstärkung. Anders war es nicht zu schaffen. Montag bis Freitag kam jeden Morgen ein LKW in die Innsbrucker Straße 26 - dort saß die Abteilung Unterhaltung - und brachte diese herrlichen grauen Postkästen, um die sich die Studenten fast prügelten. Sie wurden nach Stunden bezahlt. Die Frage war nur: Aus welchem Etat sollte das Geld für diese Arbeiten kommen? Mir war das egal, und ich sagte es auch. „Herr Bienert - so geht das aber nicht“. Darauf ich: „Entschuldigen Sie bitte - die Mauer ist gefallen!“ Mein Gegenüber (entnervt): „Das weiß ich!“ Darauf ich: „Wirklich?“

Das »Sonntagsrätsel« vom 18. Februar 1990 brachte uns einen absoluten Hörerpost-Rekord: Es kamen insgesamt 71.992 Zuschriften. Sortiert, gesichtet wurden die Karten und Briefe in unserem Büro in der Innsbrucker Straße. Zur Aufnahme, zur Verlosung mussten sie dann ins RIAS-Gebäude, zum Studio. Eine ungeheure Arbeit für unsere Botenmeisterei. Aber sie schaffte es - immer und pünktlich. Auch an diesem Tag. Ich ging vor der Aufnahme noch mal zum Studio, wollte mich vergewissern, ob alles o.k. sei, und schaute auf diese Unmenge Zuschriften. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass so viele Menschen uns schreiben. Ich war so erschlagen, ich konnte mich noch nicht mal freuen. Da erschienen zwei Vertreter der Hausverwaltung, gingen um die Kartenmengen herum, sahen die leeren Umzugskartons und sprachen mich an: „Also, Herr Bienert, das können Sie doch nicht machen?“ Ich - völlig verwirrt: „Was kann ich nicht machen?“ - „Na, das da!“ Sie deuteten auf die Hörerbriefe. Da langsam begriff ich endlich: Es war ihnen zuviel. Mir dann auch.

Alle „besonderen Zuschriften“ wurden mir rausgelegt. Ich habe manchmal zwei bis drei Tage pro Woche fast ausnahmslos Post gelesen. Nicht nur, weil wir sie beantworten wollten, nein, auch weil ich in der Sendung aus Briefen vorlas. Ich sprach Fragen und Probleme an, die die Menschen aus der DDR mir schrieben und die sie bewegten. Viele erzählten auch, was der RIAS, was das »Sonntagsrätsel« für sie bedeutete. Hunderte, Tausende meldeten sich, die in all den Jahren „nur im Familienkreis“ mitgespielt hatten. „Wir haben uns das Lösungswort dann hingelegt, weil wir nicht den Mut hatten, zu schreiben“. Nicht wenige hatten auch Repressalien befürchtet, und auch die hofften dann für sich: „Vielleicht haben wir's ja richtig“. Und wenn Hans Rosenthal die Auflösung brachte und sie hatten's richtig, freuten sie sich. Zu Hause, in der Familie. Woanders nicht.

Nicht an die Öffentlichkeit gehen und doch dabei sein. Zuversicht und Freude für so viele. Um auf diese stille Hörerschaft“, die jetzt ihre Stimme erhob, wenigstens ansatzweise eingehen zu können, reichte die Sendezeit nie aus. So viel hätte ich zitieren können, aber die Musik und die Rätselfragen sollten die Hauptsache bleiben. Und da bekam ich wieder Hilfe. Nach dem »Sonntagsrätsel« lief der Kinderfunk. Siegfried Buschschlüter sprach mit unserer Kinderfunk-Chefin. Uta Beth sagte sofort zu und schenkte mir ab sofort fünf Minuten ihrer Sendezeit. Ich durfte regelmäßig überziehen. Bis auf weiteres... So ging und so war das damals - vor mehr als zehn Jahren.

Am 7. Mai 2001 standen Marlies Kahlfeldt und ich pünktlich um neun Uhr vor einer Außenstelle der „Gauck-Behörde“ in der Otto-Braun-Straße. Die Dame, die mich angerufen hatte, empfing uns und führte uns in einen Sitzungsraum. Bis auf Tische und Stühle völlig leer. Nur - am Fenster - die berühmten zwei Metallkoffer. Da lagen sie nun - die Briefe, die uns nie erreicht hatten. Aufgefunden in Außenstellen des Ministeriums für Staatssicherheit. Marlies und ich gingen ran. Bündel für Bündel sahen wir durch, ordneten, sortierten und lasen: „An Marlies Kahlfeldt, Innsbruckerstr. 26, 1000 Berlin 62. Liebe Marlies, wenn Sie diese Karte erreicht, ist entweder die Mauer gefallen, oder ich habe doch mal Glück. Ich habe schon so oft geschrieben. Leider habt Ihr nie geantwortet“. Ähnliches kannten wir auch aus Briefen, die den Weg bis zum RIAS geschafft hatten: „Können Sie uns sagen, ob diese Post ankommt?“. Wir haben das dann bestätigt, wussten aber nicht, ob unsere Bestätigung den Adressaten überhaupt erreicht. Und wenn sie ihn erreichte, freute der - oder diejenige sich wie ein Schneekönig. Und schrieb mit neuem Mut. Doch oft wurde diese Zuschrift dann wieder abgefangen, man schrieb wieder ins Leere.

Wir lasen und lasen. Die ganzen alten Kennwörter tauchten wieder auf, die Namen, unter denen sich die Menschen bei uns gemeldet hatten: „Fasan“, „Rübezahl“, „Wilder Mann“, „Drachenhöhle“, „Eichhörnchen“, „Bärchen“ und wie sie alle hießen. Was war das für eine Zeit, die ganz normale Menschen zwang zu konspirativem Verhalten. Obwohl sie nur an einer Unterhaltungssendung teilnehmen wollten, aus dem Gefühl heraus: Wir gehören dazu - wir wollen dazu gehören!

Briefe und Karten haben wir gelesen an Michaela Wegner, Torgauer Straße 45, 1000 Berlin 62. Und auch auf denen die endlose Stasi-Registriernummer, ich weiß nicht mehr, wie viele Zeichen, akribisch mit spitzem Blei notiert, arabische und römische Ziffern, Groß- und Kleinbuchstaben, Querstriche und Längsstriche. Für Michaela Wegner kamen nach dem Mauerfall Blumen, Schokolade und Dresdner Stollen. Viele Rätselfreunde aus der DDR gingen in die Torgauer Straße, um sich zu bedanken. Nur - sie fanden Michaela Wegner nicht. Es gab sie nicht, es hat sie nie gegeben. Es war die Hilfsadresse fürs Sonntagsrätsel, die die Stasi natürlich kannte. Trotzdem - an Michaela Wegner kam mehr Post durch als ans »Sonntagsrätsel« direkt. Unfasslich, dass Menschen eine Hilfsadresse brauchten!

Doch ob nun an Michaela Wegner oder Marlies Kahlfeldt, an Hans Rosenthal, Christian Bienert oder direkt an das »Klingende Sonntagsrätsel« - wer damals in der DDR einen Brief eingesteckt hat, hat es sicher mit einem kleinen Zögern getan, mit einem flauen Gefühl im Magen. Ob die Post ankommt? Ob sie? Ob? Das Meiste kam wohl nicht an. Einiges haben wir jetzt lesen können. 

Christian Bienert
Fotos: © Deutschlandradio
www.sonntagsraetsel.de

Aus RADIOJournal 3/2004