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»Piraten auf Zeit«
Jugendradio probt Leben nach dem Tod

Freitag, 13. September 1991. Ein schlechtes Omen? Die Hörer des Ost-Berliner Jugendradios DT64, noch in ganz Ostdeutschland zu empfangen, werden um 6.00 Uhr morgens hellhörig: "Temperatur zur Zeit in Berlin 10 Grad Celsius. Die Aussichten: heute nach Auflösung vereinzelter Frühnebelfelder sonnig und" - und nichts: es rauscht nur noch. Sekunden später werden die Hörer einige Monate Richtung Zukunft gebeamt: "In der Nacht vom 31. Dezember 1991 zum 1. Januar 1992 wurde gemäß Artikel 36 des Einigungsvertrages der Sender DT64 abgeschaltet. Einem Teil der Belegschaft ist es gelungen, die bekannten Frequenzen weiterhin zu besetzen".

Der "Teil der Belegschaft" ist auf der Flucht vor den Peilwagen der Post, er sendet aus Schwerin, Dresden, Berlin und Leipzig. DT64-Fans helfen den frischgebackenen "Piraten". Ein DGB-Vertreter in Schwerin: "Wir haben ab Neujahr zusammengesessen mit Kollegen von IG Medien, haben gemeinsam darüber nachgedacht, was man machen kann in dieser Situation, und haben insbesondere die Möglichkeit geprüft, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Lande Mecklenburg zu bestreiken".

Piratensender hin, Illegalität her - ein ordentliches deutsches Radio hat zur vollen Stunde Nachrichten zu senden. Die hörten sich so an: "Berlin: ehemaliger Staatsrundfunk wurde aufgelöst. Der Sender DT64 ist gemäß Artikel 36 des Einigungsvertrages am heutigen Morgen abgeschaltet worden. Da sich im Herbst 1991 die Ländergremien nicht auf einen Erhalt des Jugendsenders einigen konnten, wurden die gesetzlichen Regelungen des Einigungsvertrages heute morgen vollstreckt. Die Frequenzen wurden um 6.00 Uhr abgeschaltet und stehen nun Privatanbietern in den neuen Ländern zur Verfügung. Teile der Belegschaft starteten am Morgen trotz Frost und Schneetreiben den Versuch, mit Hilfe einer technischen Neuentwicklung die bekannten Frequenzen weiterhin zu besetzen. Wie inzwischen aus Regierungskreisen verlautete, wird die ungesetzliche Fortsetzung des Programms nicht geduldet".

Gegen 18.00 Uhr endet das illegale Treiben der Jugendfunker. Falscher Alarm, meint ein Moderator in Leipzig zu Hinweisen auf Peilwagen. Sekunden später ist er abgeklemmt, ein schriller Test-Ton ist zu hören und eine amtlich klingende Stimme: "1. Januar 1992. Dieser Sender ist abgeschaltet". Was bleibt sind jede Menge Anrufe und Faxe von Sympathisanten und Unterstützern, zum Beispiel vom Programmchef des Lokalradios Radio Euroherz in Hof: "Wir meinen, in der derzeitigen Medienlandschaft ist DT64 ein Farbe, die nicht fehlen darf. Warum dieser Sender mit seinem Konzept nicht als öffentlich-rechtliches Radio bundesweit ausgebaut wird, ist eine Frage, die man sich bei der ARD längst hätte stellen müssen". Das stimmt allerdings nur bedingt: für den Nationalfunk, ob in der ARD oder nicht, sind die Ministerpräsidenten der Länder zuständig.

Kommentar des DT64-Chefredakteurs Michael Schiwack zum zwölfstündigen Science-Fiction-Marathon: "Das war eine Inszenierung, vielleicht sogar das längste Hörspiel der Rundfunkgeschichte". Vermutlich werde es Ende 1991 so ablaufen wie geschildert, nur die illegale Fortsetzung des Sendebetriebs werde es nicht geben. Sinn der Aktion: Öffentlichkeitsarbeit für DT64, denn "nach wie vor gibt es keinerlei Garantien, ein Jugendprogramm auch nach dem 31. Dezember 1991 auf Sendung gehen zu lassen, obwohl es uns an Sympathiekundgebungen gerade auch aus Politikerkreisen in den Bundesländern nicht gemangelt hat".

Jetzt soll die Öffentlichkeit Überzeugungsarbeit leisten: Unterschriftensammlungen, Demos und Aktionen sollen den Politikern den Willen der Hörerschaft nahebringen.

Peter C. Klanowski
Aus Radio-Skala 9/1991

• Am 15. Mai 1964 sendete eine Sonderredaktion des Berliner Rundfunks 99 Stunden nonstop vom Deutschlandtreffen der Jugend; im Juni werden auf vielfachen Wunsch der Hörer des Pfingstprogramms beim Berliner Rundfunk Jugendsendungen zum Standard - die eigentliche Geburtsstunde von DT64; als eigenständiges Jugendradio wird es erst im März 1986 gegründet. Durch lockere Moderation, spezielle Beiträge zu Jugendthemen und populäre (auch "westliche") Rock- und Popmusik ist es sehr beliebt, bleibt jedoch immer im Rahmen der vorgegebenen engen ideologischen Grenzen. Der Einigungsvertrag regelt die Auflösung der DDR-Rundfunkstrukturen zum 31. Dezember 1991. 

• “…Weil umschalten nervt!” sendet Jugendradio DT 64 ab 1. April 1990 sein Programm rund um die Uhr, teilte der Intendant des Senders, Dietmar Ringel, mit. Der einst von der FDJ initiierte Sender begreife sich heute als parteipolitisch ungebundenes Medium für die Jugend. Er hat rund 1,5 Millionen Zuhörer. (Radio-Skala 3/1990)

• 2000 Hits zwischen Bodensee und Ostsee: Das gab’s in der deutschen Radiogeschichte noch nie: Zwei Programme schließen sich über neuen Tage hinweg zu einer Sendung zusammen. Am Freitag, den 17. August 1990, um 7.00 Uhr morgens fiel der Startschuss für die ersten und einzigen gesamtdeutschen Mega-Charts, als das Jugendradio DT 64 und SDR 3 die 2.000 Lieblingshits zwischen Ostsee und Bodensee rund um die Uhr sendeten - und das neun Tage lang. Als erste Radiosendung wurde „Top 2000 D“ auch im Fernsehen übertragen. Südwest 3 war am letzten Tag von Mitternacht bis 15.00 Uhr dabei. Elf99 berichtete fortlaufend über da Ereignis und zeigte ebenfalls die Spitzenplätze als Videos. Außerdem wurde „Top 2000 D“ vom SDR europaweit auf Kurzwelle 6030 kHz übertragen. Im Bild: Uwe Wassermann - "Top 2000 D" Moderator von DT 64. Foto: © SDR (Radio-Skala 7/1990)

• SWF-Nachrichten, Samstag, 7. September 1990: „Berlin. Das DDR-Jugendradio DT 64 erhält vom West-Berliner Sender RIAS alle Frequenzen wieder zurück. RIAS hatte gestern Abend zwei Drittel der Sendefrequenzen übernommen und auf ihnen sein erstes Programm in der DDR abgestrahlt. Dies hatte zu einem Proteststurm in der DDR geführt. Die Übernahme der Sendefrequenzen durch RIAS war auch in der Bundesrepublik auf Kritik gestoßen. Der Berliner Bundestagsabgeordnete Lüder sprach von einem medienpolitischen Putsch. Der ARD-Vorsitzende Kelm nannte das Vorgehen von RIAS einen befremdlichen Alleingang“. [Nach Informationen des RIAS soll der rundfunkpolitische Alleingang im Einvernehmen mit dem Gesamtdeutschen Ministerium in Bonn und dem Berliner Senat vorbereitet worden sein. Träfe dies zu, so der ARD-Vorsitzende Hartwig Kelm, würde damit einer Entscheidung der Länder vorgegriffen, was eine Missachtung des Föderalismus in einem vereinten Deutschland darstelle. Erstaunen äußerte Kelm auch über die Handlungsweise des DDR-Hörfunks. Einerseits sei dessen Integration in die ARD von allen Seiten politisch gewollt. Andererseits werde Substanz vorzeitig veräußert.] (Radio-Skala 8/1990)

• Das dritte Fernsehprogramm des Mitteldeutschen Rundfunks bemüht sich um einen der noch freien Transponder auf Astra. Ein Kandidat für die Tonunterträger ist das Jugendradio DT 64, dem zum Jahresende die Abschaltung seiner letzten verbliebenen Frequenz (Mittelwelle 1044 kHz) droht. Die Jugendfunker hatten schon mit dem NDR verhandelt, der seine Unterträger aber inzwischen mit eigenen Programmen belegt hat. (RADIOJournal 8/1992)

• Auf Astra-Tonunterträgern soll ab 1. März 1993 das fast schon legendäre Jugendradio DT 64 zu hören sein - allerdings unter dem neuen Namen MDR Sputnik. MDR Sputnik wird demnächst nach Halle/Saale umziehen - in ein modernes Digital-Studio, sodass auch für die geplante zusätzliche Ausstrahlung über DSR eine angemessene Qualität sichergestellt ist.
(RADIOJournal 3/1993)

• Nach den bisherigen, vorläufigen Planungen darf DT 64 die Mittelwelle 1044 kHz nur bis zum 30. Juni 1993 nutzen. Inzwischen zeichnet sich ab, dass die jungen Hörer die Anschaffung eines Satelliten-Receivers scheuen und vor allem beklagen, dass mit der Aufgabe einer terrestrischen Frequenz gleichzeitig der mobile Empfang außer Haus entfällt. Deshalb wird derzeit geprüft, die Nauener Kurzwelle 6125 kHz der DW oder den stillgelegten MW-Sender Berlin-Köpenick mit 5 kW ab Juli nutzen zu können.
(RADIOJournal 4/1993)