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Informationen für einen neuen Orbis Latinus: 
Zehn Jahre »Nuntii Latini« von YLE Radio Finnland

Am 1. September 1989 startete der finnische Hörfunk einen außergewöhnlichen Sendedienst. Konnte man zuvor mit Sicherheit davon ausgehen, dass die einzigen Radioprogramme in einer - wie man landläufig sagt - „toten” Sprache die Gottesdienstübertragungen in Kirchenlatein aus dem Vatikan waren, stellten die »Nuntii Latini« aus Helsinki mit einem Male alles auf den Kopf. Seit nunmehr einem Jahrzehnt ist einmal in der Woche ein fünfminütiges Nachrichtenprogramm in klassischem (und gleichzeitig modernisiertem) Latein zu hören. Den Verantwortlichen im Funkhaus des finnischen Rundfunks YLE ist mit den „Nuntii” ein großer Erfolg gelungen.

Die Idee zu den »Nuntii Latini« wurde im November 1988 bei einer Diskussion von Reijo Pitkäranta, seines Zeichens Dozent für Latein an der Universität Helsinki, und Hannu Taanila, beim finnischen Hörfunk damals zuständig für den Programmbereich Kultur, entwickelt. Pitkärantas Kollege Tuomo Pekkanen, Lateinprofessor an der Universität Jyväskylä, wurde eingeladen, sich an dem Projekt zu beteiligen. Seit 1989 verfassen die beiden Wissenschaftler im wöchentlichen Wechsel die Manuskripte. Sprecher der Bulletins sind Reijo Pitkäranta und Virpi Seppälä-Pekkanen, die ebenfalls an der altsprachlichen Fakultät der Universität Helsinki lehrt. Verschiedene studentische Hilfskräfte komplettieren das „Teilzeit-Redaktionsteam”.

Die Premiere der »Nuntii Latini« fand im Rahmen eines wöchentlichen Wissenschafts- und Kulturmagazins statt, das Hannu Taanila für das erste Hörfunkprogramm des Inlandsdienstes zusammenstellte. Kurze Zeit später wurde das Lateinprogramm auch in den Sendeplan des Auslandsradios eingebaut und erreichte alsbald einen höheren Bekanntheitsgrad als alle anderen Radio- und Fernsehprogramme aus Helsinki. {Und weil sowohl der deutsche als auch der englische Dienst von Radio Finnland über die entsprechenden Sprachkanäle des World Radio Network (WRN) verbreitet wurden, gab es eine störungsfreie Empfangsalternative zur Kurzwelle.}

Jede Sendung enthält zwischen fünf und acht Meldungen aus den Bereichen internationale Politik, Wissenschaft, Kultur und Sport, wobei sich - wie man in Helsinki freimütig zugiebt - die Auswahl nicht nur auf politische Tagesereignisse konzentriert und immer ein wenig den persönlichen Geschmack des jeweiligen Redakteurs widerspiegelt. Die größte Leistung der Autoren der Meldungen ist es natürlich, den bestehenden Wortschatz um eine Vielzahl von Begriffen zu erweitern, mit denen die internationalen Nachrichten unserer Zeit beschrieben werden können - mitunter eine äußerst kreative Arbeit. Tuomo Pekkanen und Reijo Pitkäranta betonen jedoch, dass sie keine neuen Vokabeln erfinden, sondern nur aus vorhandenen lateinischen Wörtern (aus antiker Zeit, aus dem Mittelalter oder aus dem Vokabelreservoir anderer Modernisierer) durch Kombination neue Ausdrücke bilden. Auf diese Weise wird in Meldungen aus Straßburg und Brüssel der Europaabgeordnete zum „delegatus parlamentaris Europae”, nehmen Erik Zabel und Jan Ullrich im Sommer am „Circuitus Galliae” teil, bringt der neu-lateinische Weihnachtsmann namens „pappus natalis” die Geschenke und erhält die schönste Frau des Universums neben ihrem Krönchen eine Schärpe mit der Aufschrift „pulcherrima in universo femina”. Kein Wunder, dass man seit einigen Jahren auch eine Entsprechung für den Begriff „Radiosender” hat: „statio radiophonica”.

Die Popularität der »Nuntii Latini« kann man anhand der Hörerpost sehen: Aus annähernd 50 Ländern kamen bisher begeisterte Briefe, Faxe und eMails. Die meiste Korrespondenz erhält man aus den USA, Irland, Italien und Deutschland. Über 60 Universitäten aus aller Welt, an denen Latein gelehrt wird, forderten Informationen und Lehrmaterialien an. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die „Nuntii” bei Lateinlehrern, die im Gymnasialunterricht nicht mehr ausschließlich auf Caesar und Cicero zurückgreifen müssen. Überhaupt sollte man die Zahl der Personen, die im Schulunterricht oder im Wissenschaftsbetrieb mit der lateinischen Sprache in Kontakt kommen, also zu einem neuzeitlichen „Orbis Latinus”, einem lateinischsprachigen Weltkreis gehören, nicht unterschätzen. Der Vatikan geht vielmehr davon aus, dass es für die lateinischen Radionachrichten allein in Europa 15 Millionen potentielle Hörer gibt.

Eine Frage haben die Macher der »Nuntii Latini« in den letzten zehn Jahren immer wieder vernommen: Warum gerade die Finnen ein solches Programm anböten. Die - floskelhafte wie standardisierte - Gegenfrage aus dem Norden Europas, der vom Einflussbereich des antiken römischen Weltreichs denkbar weit entfernt ist und mit dem Finnischen eine Sprache besitzt, die mit der lateinischen nicht verwandt ist, lautet: „Warum nicht?” Warum, so Pekkanen und Pitkäranta, denen der Erfolg Recht gibt, sollten sie nicht ihre Idee umsetzen. Latein - als klassisches Idiom und über Jahrhunderte als Sprache der Theologie und anderer Wissenschaften - gehöre zum gemeinsamen europäischen Erbe, um das man sich bemühen müsse. Finnland habe seit dem 12. Jahrhundert in lateinischer Sprache am kulturellen und wissenschaftlichen Austausch teilgenommen, und außerdem werde den Sprecherinnen und Sprechern finnischer Muttersprache bescheinigt, eine besonders schöne Aussprache des klassischen Latein zu besitzen.

Bereits Anfang der 90er Jahre erhielten die Verantwortlichen viele Anfragen von Privatleuten und Pressevertretern aus dem In- und Ausland, die lateinischen Nachrichten in Buchform herauszugeben. Im Herbst 1992 erschien der erste Band, in dem die Meldungen wiedergegeben werden, die zwischen September 1989 und August 1991 on air waren. Mittlerweile liegen vier Bücher vor, die - wenn man sich die letzten zehn Jahre von den politischen Umwälzungen in Osteuropa bis zu den Kriegen auf dem Balkan vor Augen hält - ereignisreiche Zeiten behandeln. Alle Meldungen sind in den Büchern mit kurzen englischen und finnischen Zusammenfassungen versehen. Im Anhang gibt es jeweils ein umfangreiches Wörterbuch mit den bearbeiteten lateinischen Vokabeln. Die Bücher werden von der Finnischen Literaturgesellschaft SKS (Suomalaisen Kirjallisuuden Seura) verlegt. Adresse: SKS, Hallituskatu 1, PL 259, 00171 Helsinki, Finnland.

„Niemand kann eine Sprache erlernen ohne gleichzeitig zu lernen, wie man sie im Alltag verwendet. Niemand kann eine Fremdsprache genau lernen, ohne sie zu lesen, zu schreiben und vor allem zu sprechen. Wir hoffen, dass die lateinischen Nachrichten des finnischen Rundfunks weiterhin für die Kultur Finnlands und den Gebrauch eines lebendigen Latein werben werden. Unseren Hörern haben wir zumindest bewiesen, dass alles - auch heute noch - in lateinischer Sprache ausgedrückt werden kann.” Dieser Aussage von Tuomo Pekkanen und Reijo Pitkäranta gemäß kann den »Nuntii Latini« eine erfolgreiche Zukunft gewünscht werden. 

Im Bild oben (von links): Hilla Salovaara (eine der Sprecherinnen, Studentin an der Helsinki University), vorne: Tuomo Pekkanen (Professor für Latein an der Jyväskylä University), hinten: Reijo Pitkäranta (Dozent für Latein an der Helsinki University), Virpi Seppälä­Pekkanen (Latein­Absolventin, Helsinki University).

Thomas Völkner
Fotos: © FBC
www.yleradio1.fi/nuntii

Aus RADIOJournal 9/1999

  • Radio Bremen veröffentlicht seit Oktober 2001 monatlich lateinische Nachrichten. Auf der Webseite gibt es den Monatsrückblick und einen Latein-Podcast. Im Archiv sind alle lateinischen Nachrichten ab Oktober 2001 abrufbar: www.radiobremen.de/nachrichten/latein 

• Mehr Lateinisches aus Finnland: Pünktlich zum zehnten Geburtstag im September 1999 konnte die Redaktion des lateinischen Nachrichtenprogramms »Nuntii Latini« aus Helsinki eine originelle Novität präsentieren: Erstmals liegt nun das Jahrbuch des finnischen Rundfunks „YLE” nicht nur in der Landessprache, sondern auch in einer lateinischen Übersetzung vor. Die Veröffentlichung „Relatio Annua” für das Jahr 1998 soll die Leistungsfähigkeit von YLE Radio und Fernsehen für denjenigen Teil des Publikums in aller Welt demonstrieren, der den Sender über das Latein-Programm kennengelernt hat. Die Übersetzung des Jahrbuchs wurde vom Altphilologen an der Universität Helsinki, Reijo Pitkäranta, einem der Co-Redakteure der »Nuntii Latini«, angefertigt. Bereits seit einiger Zeit wird bei den »Nuntii Latini« für eine außergewöhnliche Audio-CD geworben: Es handelt sich um Variationen von Gedichten des Horaz, versehen mit Jazzmusik im New-Orleans-Stil. Auf die Idee, Jazz in Latein zu kreieren, kam Professor Tuomo Pekkanen, neben Pitkäranta Redakteur der Radiosendung, schon vor ein paar Jahren: „Die Jazz-Sängerin Reine Rimón wurde eingeladen, zu einer internationalen Sommerkonferenz der Lateinlehrer zu singen”, berichtet Pekkanen, „und aus diesem Anlass schrieben wir eine lateinische Übersetzung für ‘When the Saints go marching in’. Das Lied wurde von Reine Rimón im traditionellen New-Orleans-Jazz-Stil vorgetragen. Sie war damit derart erfolgreich, dass wir seither immer wieder Anfragen mit der Bitte erhielten, eine CD herauszubringen.” Tuomo Pekkanen geht davon aus, dass die vorgelegte Silberscheibe „Variationes Hoatianae Iazzicae” („Jazz-Variationen zu Horaz”) die erste Audio-CD ihrer Art auf der ganzen Welt ist. Die Künstlerin ist in Finnland für ihren New-Orleans-Jazz bekannt, den sie seit den 60er Jahren mit Erfolg vorträgt. Auf der Latein-CD wird sie begleitet von ihrer eigenen Band, den „Hot Papas”. (tv) ( RADIOJournal 11/1999)