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Stockholm, meine Stadt

Wer auf der Stockholmer City-Insel Södermalm wohnt, gehört zu den Priviligierten. Besonders, wenn man beim Schwedischen Rundfunk arbeitet. Da bleibt es einem erspart, am frühen Morgen U-Bahn zu fahren und von hetzenden Geschäftsleuten auf der Rolltreppe überholt zu werden. Da ist der Bus zwischen meiner Wohnung auf Södermalm und dem Funkhaus auf Östermalm gemütlicher, freundlicher, menschlicher, unterhaltender. Vor allem wegen der mobilen Telefonate, die die Stockholmer gern in den öffentlichen Verkehrsmitteln führen. Kaum fährt der Bus an, klingeln die Handys. Als gäbe es einen ursächlichen Zusammenhang. Wahrscheinlich fühlen sich die Schweden so unbedeutend, dass sie - kaum aufgestanden - auf soziale Revanche sinnen. Wie etwa die junge, hübsche Blondine hinter mir, die vor unser aller Augen und Ohren die intimsten Details vom Vorabend mit einem schwedischen Romeo ins Handy schreit. Nach einer ungewöhnlich langen Gesprächspause drehe ich mich zu der Schönen um und sage: Um Gottes Willen, legen Sie nicht auf, jetzt wo es spannend wird!

So unterhaltend kann ein Tag in Stockholm beginnen. Auch überzeugt mich die Busfahrt am Stockholmer Hafen entlang jedesmal wieder aufs Neue: dies ist meine Stadt. Das Venedig des Nordens. Wo man ständig über Brücken geht, ständig neue baut, wo es Luft zum Atmen gibt, der Blick frei ist und nicht versperrt wird von Mauern und Hochhäusern. Dabei könnte ich einen noch romatischeren Weg zur Arbeit wählen. Mit einer der kleinen Fähren vom Verkehrsknotenpunkt Slussen hinüber zur Insel Djurgden, wo das berühmte Vasamuseum liegt. Das dauert aber etwas länger, deshalb fällt die Romantik dem effektiveren Arbeitstag zum Opfer.

Direkt ausgesucht habe ich mir diese Stadt nicht. Es hat mich - wie man so schön sagt - hierher verschlagen. Ein Schicksalsschlag, an dem es nichts auszusetzen gibt. Stockholm hat Lebensqualität: ein gemäßigtes Tempo, Fahrradwege durch die Innenstadt, die Schäreninseln als Ausflugsziel, das Wasserfestival im August und mittlerweile fast ebensoviele Kneipen wie Berlin.

Aber es lebt der Mensch ja nicht vom Brot allein. Bei aller Liebe zur Natur und den Stockholmer Entspannungsmöglichkeiten, kommt womöglich das Temperament ein bisschen zu kurz. Die Stockholmer sind geduldig, ergreifen nicht unnötig Partei, lassen leben und gehen ihre Wege. Wer sich nach kontinentaleuropäischer Art gern einmischt und mitmischt, sollte sich vielleicht lieber in den Flieger nach Rom, Berlin oder New York setzen. In Stockholm lernt man so leicht niemanden kennen und auf der Straße schon gar nicht. Eine Freundschaft aufzubauen dauert unter Umständen eine Generation. Andererseits: der Umgang im Stockholmer Alltag ist unkompliziert, höflich und hilfsbereit. Wo der Berliner Busfahrer bei der geringsten Frage die Passagiere anfaucht wie zu DDR-Zeiten, zückt sein schwedischer Kollege in aller Ruhe den Stadtplan und hilft dem verwirrten Touristen auf die Sprünge. Dazu in tadellosem Englisch. Die anderen Fahrgäste warten geduldig. Es könnte sein, das nächste Mal sie es sind, die Hilfe brauchen. Ja, dies ist meine Stadt.

Gundula Adolfsson
Fotos: © Peter Schneider
www.sr.se/international

Aus RADIOJournal 1/1999

• Gundula Adolfsson ist Mitarbeiterin beim Schwedischen Rundfunk [heute Chefredakteurin von SR International]. In RADIOJournal 11/1998 („Radio Schweden auf Deutsch”) schrieb sie über ihre Arbeit in der deutschen Abteilung.