Best of Story
Das Beste aus 20 Jahren RADIOJournal

Der Rundfunk

Sehr geehrte Frau Dr. Götz, begann ich kürzlich einen Brief an die Wellenchefin von „radio kultur” und wünschte alles Bessere und Beste. Vor allem viele Hörer und auch das nötige Glück. Die Programmkonzeption liest sich vielversprechend. Erste Bedenken (Wegfall eines Sendetermins der »Passagen« im Monat, mögliche Einschränkungen von literarischen Originallesungen am Sonntagabend durch Einsetzen von Konserven, Interviews oder Lesungswiederholungen) sind durch andere Programmelemente erst einmal gedämpft. Eigentlich müsste der neue Sender mehr Plätze zur Verfügung haben als seine beiden Vorläufer. Schrieb ich und wechsele das Thema:

Ich wohne in Berlin, Friedrichshain, an der Grenze zu Berlin Mitte, also an der Karl-Marx-Allee, die am Strausberger Platz von zwei Hochhäusern flankiert wird. Vielleicht ist es mein Problem, nur im vierten Stock zu wohnen. Der SFB 3 war nie gut zu empfangen, weder in meiner ersten Berliner Wohnung, noch in der zweiten. Sie liegen per Luftlinie in einem gleichschenkligen Dreieck, dessen Seiten zirka drei Kilometer umfassen. Überall hörte ich den „SFB 3” in gleichbleibender Qualität. Es gab Debatten über eine Verbesserung der Empfangsqualität. Als ich 1988 meinen Plattenspieler zur Reparatur brachte, stand vor mir jemand mit Radio. Ihm käme es darauf an, die Empfangsqualität von SFB 3 zu verbessern.

Kunde: „Was können Sie denn da machen? Können Sie nicht die Sender nebenan wegdämpfen?”
Reparateur: „Was für Sender?”
Kunde: „Ich glaube der Berliner Rundfunk und noch so ein Ostsender”.
Reparateur: „Da ist technisch nichts zu machen. Da hilft nur eins: den Sendemast sprengen!” Leichtes Gelächter bei mehreren umstehenden Personen.

Nun leben wir alle im Westen und die Hauptstadt hat sich ein neues öffentlich-rechtliches Kulturprogramm zugelegt. Seit drei Monaten versuche ich, es zu empfangen. Auf meinem ersten Radio, das eine etwas enge Sendeskala hatte, gelang es überhaupt nicht. Ich gehöre zu den Menschen, die ihr Radio durch die Wohnung tragen und ganz auf Antennenempfang vertrauen. Das ging ja auch bei SFB 3. Nicht gut, aber hörbar. Andere Sender kommen und kamen besser auf UKW, Deutschlandfunk erstklassig, Deutschlandradio Berlin gut, Hundert,6 oder Radio Eins oder das private Talkradio sehr ordentlich. Insgesamt empfange ich an die 20 Sender, ich mag sie nicht zählen, da sich die Musiksender oft zum Verwechseln ähnlich sind. „radio kultur” oder das „InfoRadio” sind jedenfalls nicht dabei.

Mit einem neuen Radio gelingt es mir in der Küche (nur in der Küche) bei einer bestimmten Stellung der Antenne und meiner Person eine zeitweilige Empfangsmöglichkeit herzustellen. Dazu muss ich auf den Stuhl, das Radio und die Antenne auf eine bestimmte Art ausrichten und leicht gebückt daneben stehen, ohne die Antenne anzufassen. Auf diese Weise erfuhr ich, dass dieser Sender vorhanden ist. Die Behauptung, er sende auf einer besseren, überall in Berlin empfangbareren Welle, ist für meine Wohnung nachweislich falsch. Welche Sendemasten welcher Sender sollte ich nun sprengen, damit „radio kultur” in der Mitte Berlins für ein normales Radio empfangbar wird? Zumal es bald wieder Studien geben wird, die von der Sendeakzeptanz handeln. Das Ergebnis in diesem Teil der Stadt muss katastrophal ausfallen.

So schrieb ich und bekam rasch einen Anruf von einem Techniker, der mir einiges erklärte. Ich begriff, was ich bereits wusste: ich gehe zu rückständig an die Sache. Ich könnte über Kabel und mit Kopfhörern (die haben einen ausführlicheren Namen) durchaus in der ganzen Wohnung den Sender empfangen. Ich laufe aber nicht gern mit Kopfhörern durch die Wohnung. Es gehört zu den Vorteilen des Antennenradios, den Grad der Aufmerksamkeit flexibel zu ändern. Und auch das Telefon noch zu hören. Oder einem anderen Menschen zuzuhören. Der technische Mitarbeiter erklärte, dass die Ost-West-Trennung sich im Prinzip fortsetze, was die Ausstrahlungsorte der Sender betreffe. Ich bekäme die gut, die vom Alexanderplatz aus im Osten ausgestrahlt würden. Es sei ohnehin komisch, daß sich da noch keiner über die Elektrosmogwerte beschwert hätte. Die Gegend um den Fernsehturm sei hoch belastet. Bei ihnen würde das ja im Wald abgestrahlt. Und die würden im traditionellen Westen gut empfangen. Also die Ostsender für den Osten und die Westsender für den Westen. Nur, was Ostsender ist, hat sich geändert: der Deutschlandfunk bekam eine Frequenz, ein Talk-Radio eine andere. Und „radio kultur” hatte eben Pech, die Frequenz von SFB 3 nicht behalten zu haben. Pech, wohlgemerkt für mich. Für andere Empfänger möglicherweise eine Verbesserung. Für mich bedeutete der Frequenzwechsel das faktische Verschwinden des Senders.

Was bleibt? Die Tatsache, dass die öffentlich-rechtlichen Wellen Berlins so schwierig zu empfangen sind wie noch nie. Durch die Vereinigung ist mir ein Stück Westen, dessen Kulturmagazin ich im Osten täglich hörte, entschwunden. Ein symbolischer und nicht einmaliger Vorgang für DDR-Bürger. Jetzt könnte ich den Fernsehturm sprengen. Oder einen Antrag bei der Stelle stellen, die Sendefrequenzen vergibt. Die Alternative wäre: private Sender aus dem Antennenprogramm zu nehmen und mit ihren Frequenzen die öffentlich-rechtliche Grundversorgung im ganzen Stadtgebiet zu gewährleisten. Auch ein rein brandenburgisches Programm muss nicht mitten aus Berlin ausgestrahlt werden. Unsere Rundfunkgebühren und das föderale System bedeuten erst einmal eine Bevorzugung der öffentlich-rechtlichen Programme des eigenen Bundeslandes. Das sollte ebenfalls für die Mitte Berlins gelten, auch wenn diese einmal der Westen von Ostberlin war. Und die Nachfolgeprogramme des SFB müssen sich rasch sehr stark und präsent machen, um nicht in absehbarer Zeit als sehr überflüssig dazustehen. 

Lutz Rathenow
Fotos: © Lutz Rathenow /rbb
www.kulturradio.de

Aus RADIOJournal 10/1998

Lutz Rathenow (Autor / Schriftsteller)
1996: Konrad-Adenauer-Literaturpreis der Deutschland-Stiftung.
1980: Mit dem schlimmsten wurde schon gerechnet.
1982: Zangengeburt. Gedichte.
1984: Jeder verschwindet so gut er kann. Ed. Mariannenpresse.
1987: Berlin-Ost. Die andere Seite einer Stadt. (zs. Harald Hauswald)
1989: Zärtlich kreist die Faust. Gedichte. Pfaffenweiler.
1989: Sterne jonglieren. Gedichte. Ravensburger.
1992: Die Lautere Bosheit. Maulwurf.
1992: Tag der Wunder. (zs. Frank Ruprecht). Nord-Süd.
1993: Autorenschlachten. Stück. UA Saarbrücken.
1993: Oder was schwimmt das im Auge. Landpresse-Verlag.
1994: Verirrte Sterne. Gedichte. Merlin.
1995: Floh Dickbauch. (zs. Peter Bauer). LeiV.
1995: Sisyphos. Erzählungen. Berlin Verlag.
1995: Wende gut, alles gut? (zs. Wolfgang Korall). Kindler.
1997: Jahrhundert der Blicke. Neue Gedichte. Landpresse Verlag.