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Das Beste aus 20 Jahren RADIOJournal

BBC AUF DEUTSCH 60 Jahre -
Aus dem Alltag eines Rundfunkjournalisten

Kein Zeitfunkredakteur, der nicht von Zeit zu Zeit den Radioangsttraum träumt. Er kommt in vielerlei Gestalt. Zum Beispiel, dass der Weg zum Studio, Sekunden bevor das rote „On Air” Licht angeht, zu einem meilenlangen Hindernislauf wird, auf dem man mit schweren Beinen kaum vorankommt. Dass die Wörter und Buchstaben auf dem Blatt, von dem man die Nachrichten lesen soll, plötzlich durcheinanderpurzeln und keinen Sinn mehr machen, oder der Gesprächspartner, mit dem man ein Live-Interview machen soll, plötzlich eine andere Sprache spricht.

Zeitfunkmacher stehen unter dem gnadenlosen Zwang, Tag aus Tag ein ihre Sendung zu füllen. In ihren Angstträumen sind sie mit Sinnleere konfrontiert und werden am Reden gehindert. Und wenn sie bei der BBC arbeiten, kommt ihnen nicht einmal rettend die Musik zu Hilfe. „Verschwendung wertvoller Sendezeit”, hieß es in den strengeren Tagen, wenn der Redakteur Löcher in seinem Programm mit rettender Musik stopfen wollte.

Doch das sind bloße Träume. In der Wirklichkeit geht, aus einem mir bis heute nicht erfindlichen Grund, alles immer - mehr oder weniger - glatt. Auch an den sogenannten „langsamen Tagen”, an denen man nach dem Lunch noch ratlos nach spannenden Themen sucht, beginnt die Sendung pünktlich auf die Sekunde - fast immer. Um 17.29.32 Uhr schaltet der Schaltraumcomputer das Studio für »HEUTE AKTUELL« auf Sendung. Um 17.59.28 Uhr wieder aus. Was in den knapp 30 Minuten dazwischen passiert, ist Sache des Redakteurs und seines Moderators. Das ist das unerbittliche Diktat des Zeitfunks. Die einzige Ausnahme in meiner Erfahrung war ein Feueralarm. Dann wird das Studio umgehend geräumt. Der alte BBC-Heroismus, auch noch im Bombenhagel die Nachrichten zu lesen, ist versicherungsrechtlichen Bedenken zum Opfer gefallen.

Auch sonst ist man als BBC-Redakteur heute wohl etwas verwöhnter als dazumal. Das Korrespondentennetz reicht inzwischen in die hintersten Winkel der Welt. Minute um Minute laufen die Meldungen, die Berichte, die Features ein. Irgendwo passiert immer etwas. Alles wird säuberlich transkribiert und ist im großen Computernetzwerk abrufbar - das gesamte Wissen der großen Nachrichtenmaschine BBC.

Viele Themen sind, wenn man dann ins „meeting” geht - wie die Redaktionskonferenz bei der BBC heißt -, durch die Tagesaktualität vorgegeben. Golfkrieg oder Bosnien, das sind Dauerbrenner, die das Zeitfunkteam monatelang in Trab halten. Pressekonferenzen finden statt, ein Interviewtermin mit einem Prominenten wurde festgelegt. Bei anderen wird heiß diskutiert. War es zum Beispiel richtig, dass Dianas Tod auch im World Service der BBC fast eine Woche lang Thema Nummer 1 war? Wieviel deutsche Themen will man von der BBC hören?

Und dann - Aktualität allein reicht natürlich nicht. Sie muss dem Hörer auch richtig vermittelt werden. Zur objektiven Information gehört beim Zeitfunk das Hintergrundwissen und die Reflexion. Der Redakteur ist angehalten, den Finger am Puls des Zeitgeists zu haben. Was sind die Themen der Stunde? Wo sind neue Aspekte zu aktuellen Debattenthemen? Wer sind die Meinungsführer und Vordenker? So blättert man in den Zeitungen, spricht mit Kollegen, spitzt die Ohren.

Dann geht die Suche nach den Interviewpartnern los. Phantasie, das große Buch mit den Telefonnummern helfen - und Geduld. Während der Moderator sich mit den Themen vertraut macht, telefonieren sich der Redakteur und sein Kollege die Finger wund. Alles begleitet von der ständigen Redaktionsdebatte im Großraumbüro. Immer wieder der kurze Blick zur Uhr. Wie lange noch? Irgendwo werden sich doch ein paar Sachkundige finden, die der BBC Rede und Antwort stehen wollen?

Sie finden sich fast immer, sogar am Silvesternachmittag. Aus Zeitgründen werden viele Interviews vorher aufgezeichnet. Sie müssen gekürzt und sendefertig geschnitten werden. Despatche werden verfasst oder übersetzt. Alles wird gegengelesen, Schnitzer werden ausgebessert. Nichts darf gegen das journalistische Ethos der BBC verstoßen. Darf der amerikanische Gesprächspartner Clinton zum Beispiel einen „Gauner” nennen? Kann das Interview mit Ministerpräsident Biedenkopf gesendet werden, das der Kollege zu Pianobegleitung im Hotelfoyer führen musste? Der Redakteur entscheidet. Die Kritik kommt - nach gutem BBC-Brauch - hinterher.

Je näher der Sendebeginn, desto größer die Hektik. Ideal wäre, wenn die Weltentwicklung eine halbe Stunde vor Sendebeginn suspendiert würde. So muss, was aktuell passiert, live abgefangen werden. Am besten man entwickelt einen guten Nachrichtenriecher. Und dann ab ins Studio. „Wird das schon gesendet?” fragte der pensionierte amerikanische Botschafter im Live-Interview. Fast immer werden Beiträge noch bei laufender Sendung abgeliefert. Haben wir zuviel oder zu wenig? Unablässig wird gerechnet, denn die Kunst ist nicht nur, eine schöne Sendung zu machen, sondern auch pünktlich damit aufzuhören. Nie weiß man im voraus, was passiert, aber klappen tut’s - fast - immer. 

Bilder (von oben): So begann der Zeitfunk des Deutschen Dienstes der BBC 1938. Am Mikrofon: Hugh Carleton Greene; die Zeitfunkredakteure Johannes Dell und Helmut Hirschmüller (1998).

Matthias Thibaut
Fotos: © BBC

Aus RADIOJournal 4/1998

• Autor Matthias Thibaut war einer der dienstältesten und erfahrendsten Redakteure beim Deutschen Dienst der BBC und seit 1985 in der Londoner Redaktion dabei. Der Deutsche Dienst der BBC London wurde Ende März 1999 eingestellt.