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Das Beste aus 20 Jahren RADIOJournal

Von einem Briefpapier, das zur Radiostation wurde

Irgendwo südlich von Offenbach liegt die Gemeinde Rodgau, eine noch recht junge Kommune, zusammengewürfelt im Zuge der letzten Gebietsreform. Einen Teil von Rodgau stellt die Ortschaft Jügesheim dar, in der im November 1996 ein (zugegebenermaßen kleines) Stück Hörfunkgeschichte geschrieben wurde. Dazu muss man wissen, dass in Jügesheim, besser gesagt im dortigen Neubaugebiet, das Gemeindezentrum der Evangelischen Kirche steht, welches in besagtem Zeitraum zeitweise umfunktioniert und so zum Schauplatz dieses Ereignisses en miniature wurde. Stieg man nämlich in jenem Gebäude die Treppenstufen zur Empore hinauf, so konnte man dort weder den Kirchenvorstand bei einer Sitzung antreffen noch den Organisten beim Spielen an der Orgel. Stattdessen wuselten eine Menge junger Leute herum, jonglierten mit Mikrofonen, Telefonhörern und Netzwerkmodems, erstellten Ablaufpläne, drehten an Knöpfen und zogen an Reglern.

Warum dies alles? Vom 22. November bis einschließlich 1. Dezember 1996 war das Evangelische Gemeindezentrum in Jügesheim der Produktionsstandort des deutschlandweit ersten Veranstaltungsradios in Trägerschaft eines kirchlichen Jugendverbandes. Die Evangelische Jugend im Dekanat Rodgau (EJDR) nutzte die Möglichkeit des Hessischen Landesmediengesetzes und betrieb, begleitend zur diesjährigen Dekanatsjugendwoche, den Sender "Radio ear - Evangelische Antenne Rodgau" auf der terrestrischen UKW-Frequenz 91,2 MHz. Rund 20 Teens und Twens gehörten zur Projektgruppe, die von zwei hauptamtlichen Kirchenmitarbeitern, dem Dekanatsjugendreferenten Roland Bonaventura und Peter W. Schmidt von der Medienfortbildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, geleitet wurde.

Überraschendes Bekenntnis zu Beginn: Ursprünglich hätte "Radio ear" ein Briefpapier werden sollen, erklärt Thorsten Behrens im Vorwort zum Programmheft. Ziel der Public-Relations-AG (PRAG) der EJDR sei es nämlich gewesen, eine Werbekampagne für die Dekanatsjugend durchzuführen. "Viele Ideen hierzu gab es zwar (neues, einheitliches Briefpapier, neue Stempel, neue Briefumschläge, neue Aufkleber, Kinowerbung...) aber es kam nichts brauchbares zustande", so der 21-Jährige. Durch die Zusammenarbeit mit Peter W. Schmidt eröffneten sich dann neue Perspektiven: Auf einem Seminar im Frühjahr 1996 wurde eine grundlegende Situationsanalyse durchgeführt und versucht, eine eigene "Corporate Identity" zu entwickeln. Außerdem legte die Gruppe fest, dass am Ende des Prozesses ein öffentlichkeitswirksamer "Event" stehen müsse, durch den möglichst viele Außenstehende erreicht werden. Man entschied sich schließlich für das Radioprojekt "Evangelische Antenne Rodgau".

In den folgenden Wochen und Monaten gab es selbstredend allerhand zu tun. Nach Verhandlungen mit der LPR Hessen und der Telekom über Lizenz und Sendetechnik, musste das Projekt auf ein breiteres personelles Fundament gestellt werden. Roland Bonaventura sprach hierzu die Schulen, Jugendverbände und -einrichtungen an und erklärte sein Vorhaben: "Ein wesentliches Merkmal (...) wird sein, dass Radiobeiträge von Interessierten gesendet werden. Obwohl 'Radio ear' von einem evangelischen Träger verantwortet wird, sind auch Beiträge, die sich nicht mit Kirche befassen, erwünscht". Nachdem sich der "harte Kern" gefunden hatte, wurden die Radioleute in spe auf einem Workshop in den Herbstferien, für den auch Norbert Büchner von der Darmstädter Initiative RadaR gewonnen werden konnte, mit der Gestaltung von Beiträgen und den verschiedenen Präsentationsformen des Mediums vertraut gemacht.

Roland Bonaventura findet zuerst kaum die Muße zu einem Gespräch. Immer wieder gilt es, bestimmte Dinge abzuklären und Aufgaben zu deligieren ... ach ja, der DJ, der sich tags zuvor gemeldet hatte, braucht Bescheid, wann er auf Sendung gehen darf. Also was wäre zu sagen? Natürlich, dass sich die Arbeit und der finanzielle Einsatz (die Gelder kommen teilweise aus den Töpfen der Medienfortbildung der Evangelischen Kirche und werden durch den Verkauf von Programmheften und ein behutsames Sponsoring ergänzt) bisher gelohnt habe. Die Jugendlichen seien ungeheuer engagiert, haben sich mit ihren eigenen Themen in das Programm eingebracht. Die Beteiligung sei auch für einen Betrieb rund um die Uhr ausreichend hoch; lediglich in den Morgen- und Vormittagsstunden der Wochentage, wenn die Gruppe der Schüler noch nicht "ran darf" und sich auch die Studenten nicht immer freinehmen können, moderiere Peter W. Schmidt die Frühstückssendung »Guten Morgen Rodgau!«. Teilweise würden um die Mittagszeit und in den Nachtstunden einzelne Programme vom Vortag wiederholt. - An dieser Stelle wird die Unterhaltung erneut unterbrochen: Der Küster und Hausmeister Walter Müller ist wieder gefragt. "Walter Müller" ist Roland Bonaventuras Beitrag zum Programm, eine immer wiederkehrende Kunstfigur, der "Running Gag" bei "Radio ear".

Nein, ein ausgesprochen christliches Radio mache man trotz des organisatorischen Status als Teil der Evangelischen Kirche nicht, so Bonaventura. Dafür sei die Jugendarbeit im Dekanat viel zu sozialdiakonisch ausgerichtet und nicht nur an der Verkündung orientiert. Dass das Projekt "Radio ear" dennoch nicht polarisierend wirkte, zeigt eine kleine Begebenheit: Gestern waren zwei ältere Damen im Studio, die wohl eher dem pietistischen Flügel der Gemeinde zuzurechnen sind. Doch statt über vermeintlich fehlende Inhalte zu sprechen, zeigten sich die Besucherinnen von der Idee eines Senders des Jugendverbandes "ihrer" Kirche begeistert. Ein solches Engagement hat offensichtlich auch sie überzeugt.

Überhaupt gibt es einen regen Besucherverkehr: Am ersten Wochenende bereits statteten die Pröpstin und der Kirchenpräsident dem Sender offizielle Besuche ab. Besonders aber die jugendlichen Radiohörer, Freunde, Geschwister, Mitschüler schneien immer wieder herein. Zeitweilig sind alle Sessel, Bänke und Sofas rund um die Kirchenorgel besetzt. - "Hallo, wer seid Ihr denn?" - "Wir sind einfach so hier. Können wir mal reingehen?". - Dazwischen schaut eine Mutter herein, die für die Crew einen Kuchen gebacken hat. (Übrigens dachte auch ein Bäcker, der zur Gruppe der Sponsoren gehörte, an den Hunger der Radioleute und lieferte ein Backblech voll Kaffeeteilchen, worauf ihm umgehend ein "Dankeschön" über den Äther geschickt wurde. Das wiederum hörte das örtliche Konkurrenzunternehmen und ließ sich ebenfalls nicht lumpen.) Für den Mittwoch hatte "Radio ear" Starbesuch: Henni Nachtsheim, die eine Hälfte des Comedy-Duos "Badesalz" und selbst Rodgauer, schaute auf einen Sprung herein und unterhielt sich mit den jungen Moderatoren.

Auch via Telefon und Fax kommen Rückmeldungen. So erfuhren die jungen Radioenthusiasten, dass ihr Programm nicht nur dekanatsweit zu hören war, sondern auch noch in Darmstadt, Maintal, Frankfurt und Offenbach. Manche der Hörerinnen und Hörer sprechen die Teilnehmer des Projekts auf der Straße oder beim Einkaufen an.

Fazit: Das Rodgauer "Radio ear" war, auch im Kontext der bisherigen hessischen Veranstaltungsradios, erfrischend "anders". Hier betätigten sich fast ausschließlich Kinder und Jugendliche vor und hinter dem Mikro, mit allen Fehlern und Patzern, aber auch bemerkenswert agil und selbstbewusst. Vielleicht ist es gerade dieser Aspekt, der die zehn Tage auf Sendung wertvoll werden ließ: dass nämlich Jugendliche ihr Engagement und ihre Arbeit ehrenamtlich und projektbezogen eingebracht haben, einmal nicht als Konsumenten, sondern aktiv auf der Produzentenseite. "Radio ear" war somit ein bislang unbestrittener Weg, Jugendarbeit zu leisten. Die Rodgauer Kids hatten für kurze Zeit eine außergewöhnliche Spielwiese, eine Plattform für ihre eigene Kreativität und Phantasie.

Thomas Völkner
www.radio-ear.de

Aus RADIOJournal 2/1997

• Das Rodgauer Radioprojekt aus dem letzten Herbst will in absehbarer Zeit in die zweite Runde gehen. Bei der gründlichen Nachbereitung der Aktivität votieren die beteiligten Jugendlichen für eine Wiederholung in diesem Jahr. Mittlerweile ist es spruchreif: Zwischen dem 14. und 23. November 1997 wird "Radio ear II" als Veranstaltungsradio zur Dekanatsjugendwoche erneut auf Sendung gehen. Wie Roland Bonaventura von der Evangelischen Jugend im Dekanat Rodgau mitteilte, will man versuchen, die 1996 geknüpften Kontakte zu nutzen, um "Radio ear II" auf eine noch breitere personelle und organisatorische Basis zu stellen. (tv) (RADIOJournal 6/1997)