Best of Story
Das Beste aus 20 Jahren RADIOJournal

All that Jazz - Überzeugungstäter starten Hamburger Jazzwelle

Drei Rechtsanwälte, zwei Diplom-Kaufleute, ein Steuerberater, ein Redakteur, ein kaufmännischer Angestellter und ein Elektromeister - das ist die Veranstaltergemeinschaft eines bemerkenswerten Radio-Projekts, das am 16. November 1991 in Hamburg auf Sendung ging.

Seit dem 2. Januar 1986, 22.00 Uhr, hat München eine Jazzwelle - für acht Stunden wöchentlich. Inzwischen ist das Programmvolumen auf 38 Wochenstunden angewachsen. Gesellschafter des Senders, der seine Frequenz mit Radio Arabella teilt, sind Hans Ruland, seit knapp 15 Jahren Herausgeber der Jazz-Zeitung, und die Radio K3 (= Kinder, Kultur, Klassik) GmbH (Geschäftsführer: Jürgen Bucholtz). Im ewigen Wettstreit der Medienmetropolen München und Hamburg hat jetzt allerdings, was Jazz im Radio angeht, die Hansestadt die Nase vorn. Zum ersten Mal in der deutschen Rundfunkgeschichte wird in Hamburg Jazz zur dominierenden Musikfarbe einer ganzen Frequenz - dank tatkräftiger Mithilfe der Münchner Ruland und Buchholtz. Mit von der Partie sind sieben Hamburger Gesellschafter, die eines verbindet: sie sind Jazz- und Radio-Fans. Das Resultat: die Jazzwelle plus Hamburg - zunächst zwischen 6.00 und 22.00 Uhr, freitags und sonnabends bis 2.00 Uhr; angestrebt wird ein 24-Stunden-Programm.

So weit, so gut - nur: was ist Jazz? "Die hundertjährige Jazzgeschichte hat mindestens so viele Spielarten hervorgebracht wie drei-, vierhundert Jahre abendländische Musikkultur", meint Hans Ruland, geschäftsführender Gesellschafter beider Jazzwellen. "Eine Vielzahl von Fraktionen und Fraktiönchen", untereinander teils spinnefeind, hat sich herausgebildet. Ein Jazzradio stößt daher auf außerordentliche Probleme. Für das Tagesprogramm hat man sich darum für leichte Kost, für die "unterhaltsamen Formen des Jazz" entschieden: vormittags eine Mischung, »flott und leicht aus Dixie, Swing und entsprechenden Oldies der 50er Jahre«, mittags »beswingte Evergreens aus Jazz und Entertainment«, nachmittags ein »Jazz-Cocktail«. Dazwischen ein beabsichtiger Bruch: zwischen 14.00 und 16.00 Uhr, der berühmten Schüler-Premetime, gibt es »das Neueste aus Jazz, Rock, Funk und Fusion - zwei Stunden für die Kids mit Jugendthemen«. Früher sei Dixie die "Einstiegsdroge" zum Jazz gewesen, heute sei es eben Jazzrock.

Eine halbe Stunde »Kultur vor 8« (19.30 Uhr) führt auf das abendliche »Jazz special« hin - hier sollen Kenner auf ihre Kosten kommen. Abgerundet wird das Musikprogramm durch jeweils zwei Stunden Klassik sonnabends und sonntags - löblicherweise unter besonderer Berücksichtigung der "eher selten gespielten Musik vom Mittelalter bis zur aktuellen E-Musik". Doch das Programm soll keineswegs nur Jazz- und Klassikfans ansprechen. Als Schlüssel zu breiteren Hörerschichten haben Ruland und Konsorten die Kultur ausgemacht, die den Schwerpunkt des Wortangebots bildet: "Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Theatergänger, ein Cineast, ein Vernissagefreak oder ein Bücherwurm Jazz oder Klassik zumindest akzeptiert, ist groß". Dabei sollen Hörer angesprochen werden, die sich mit der heutigen Radio-Realität nicht anfreunden können. So soll es für Wortbeiträge keine festgelegte Länge geben, sie sollen "so lang sein, wie es Sinn macht" und nicht "wie im Durchlauferhitzer von einem Ohr zum anderen" plätschern.

Bei der aktuellen Personalausstattung des Senders (drei feste, drei feste halbe und etwa ein Dutzend freie Mitarbeiter) sind allerdings Zweifel an der Machbarkeit dieser hehren Ambitionen angebracht. Ruland will "an allen Ecken und Enden sparen, wie es nur denkbar ist", er nennt sein Konzept "low low budget", will aber nicht verraten, wie low der Etat liegt: "Wir haben kein Budget. Wir geben dem Sender das, was er braucht".

Nachrichten beispielsweise wird es zunächst nur fünfmal pro Tag geben, sie kommen als Übernahme vom Deutschen Dienst der BBC London. Das soll "sukzessive ausgebaut werden", so wie überhaupt das gesamte Programmangebot flexibel gehandhabt werden und "organisch zusammen mit den Hamburger Hörern wachsen" soll. Fest steht, dass zwischen den beiden Jazzwellen im Norden und Süden der Republik ein reger Programmaustausch stattfinden wird, aber nicht mehr: "Der Hamburger Sender wird nicht aus München alimentiert", so einer der Hamburger Gesellschafter.

Sie haben Mut zum Risiko, aber "suizidal veranlagt" sind die Gesellschafter trotzdem nicht: die Münchner Jazzwelle, das während seiner Sendezeit meistgehörte Lokalradio der Weißwurstmetropole, erzielt "durchaus auskömmliche Werbeinnahmen". Der Werbeindustrie wolle man eine Hörerschaft bieten, die sonst vom Radio nicht erreicht wird: Menschen, die gerne zuhören. Ruland: "Wenn dann Werbung kommt, gibt's kein Zapping mangels Alternative". Anderen Sendern nehme man durchaus nichts weg; sie haben eben andere Zielgruppen.

Exorbitante Gewinne werden nicht angestrebt, man wolle halt so viel verdienen, um den Laden langfristig am Laufen halten zu können - dabei sei schon ein wenig Selbstausbeutung im Spiel. Acht von neun Gesellschafter werden ihre Musikkenntnisse als Moderatoren einbringen, vornehmlich am Sonntag - logisch, üben die Herren doch werktags "ehrbare" Berufe aus. Die sind ihnen beim Radio von Nutzen: Elektromeister Michael Kittner ("unser Zauberer") wird nicht nur lateinamerikanische Musik präsentieren, er ist auch gleichzeitig technischer Leiter des Senders; Steuerberater Herbert Riechers, Modern-Jazz-Experte, übernimmt die Buchhaltung.

Zwar sendet der Hamburger NDR auch Jazz, meist zu nachtschlafender Zeit, sogar Radio Hamburg versuchte sich abends mit einigen Stunden Jazz nach Art des Londoner Senders Jazz FM. Doch "von allen Seiten, uns sei es vom Bäcker an der Ecke" bekam Ruland während der letzten Wochen an Elbe und Alster nur Ermutigendes zu hören: ein Sender, der Jazz spielt "wie die größte Selbstverständlichkeit der Welt" habe trotzdem gefehlt.

Ob die Jazzwelle plus Hamburg diese Marktlücke füllen kann, muss sich noch zeigen. Natürlich ist das Vorbild in München relativ erfolgreich, es hat aber aufgrund des Frequenzsplittings mit Radio Arabella kein Tagesprogramm - hier fehlen also die Erfahrungen. Der Erfolg wäre dem neuen Sender zu wünschen, denn hier sind Überzeugungstäter am Werk, die nach eigenem Bekunden "den Versuch wagen, an die Rundfunk-Tradition längst vergangener Tage anzuknüpfen". Das soll wohl weniger die Renaissance des Dampfradios werden als vielmehr ein Programm, mit dem sich die Macher aufgrund persönlicher Vorlieben und nicht wegen professioneller Selbstdisziplin uneingeschränkt identifizieren - in der heutigen Medienlandschaft eher die Ausnahme.

Peter C. Klanowski

Aus Radio-Skala 10/1991

• Seit seinem Start am 16. November 1991 hatte es Hamburgs kleinster privater Hörfunksender "Jazz Welle Plus" alles andere als leicht. Das lag sicher nicht nur am Programmformat. Mangelndes Kapital und nicht ausreichend fließende Werbeaufträge verhinderten über lange Zeit, dass der Sender überhaupt mal richtig "auf die Füße" kommen konnte. Zuletzt war es die Forderung der Hamburgischen Anstalt für Neue Medien (HAM), Betreiber-Mehrheitsbeteiligungen abzugeben, die dem "Kleinen" das Leben schwer gemacht hatten. Doch zur Überraschung der Medienwelt in der Hansestadt fanden sich dann doch - gewissermaßen in letzter Sekunde - die Retter in Form von "Radio Concept" (betreibt in Berlin den Hörfunksender "jfk") und dem französischen NRJ. Sie beteiligten sich mit je 24,9 Prozent an der "JWP" (aus der ab 1. August "Energy Hamburg" wird), während die geschäftsführende Gesellschafterin Sabine Nagel-Heyer und ihr Mann Hans künftig nur noch mit 37,7 (sowie Hannes Giese und Michael Kittner mit je 6,25) Prozent beteiligt sind. "Was wir jetzt als Energy Hamburg ab 1. August 1995 starten, ist ein Neuanfang mit einem jazzorientierten, melodiösen AC-Musikformat, sehr viel regionalem Service vor allem aus Kultur und Lifestyle, hochprofessionellen O-Ton-Nachrichten und einem ganz erheblichen medienwirtschaftlichen Engagement. Die Hamburger werden ein wirklich neues Radio bekommen. Natürlich nach wie vor mit viel Jazz, allerdings frischer, moderner und hörerfreundlich auch für größere und jüngere Publikumsschichten gemischt. Nicht mehr nur von Spezialisten für Spezialisten", sagte Sabine Nagel-Heyer in einem Interview mit RADIOJournal. (RADIOJournal 7/1995)

• Innerhalb der Anbietergemeinschaft von Energy Hamburg werden die 12,5 Prozent der Anteile, die bislang von den Gesellschaftern Michael Kittner und Dr. Hannes Giese gehalten wurden, an die Jazz Welle Plus Beteiligungs GmbH übertragen. Diese gehört den Eheleuten Sabine und Hans Nagel-Heyer. Bereits zuvor hatte die HAM Änderungen im Musik-Format von Radio Energy genehmigt. Danach kann die Musikfarbe insgesamt "jünger" werden. Energy Hamburg steuert nunmehr die Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen an. Unverändert bleiben die Anteile an jazzverwandter Musik wie Soul, R+B, Blues und Reggae, zu denen jetzt auch Dance hinzukommt. Unverändert bleibt auch der sonntägliche Jazz-Abend. Neu sind eine werktägliche Black-Music-Session ab 23.00 Uhr sowie täglich mehrere Specials mit Themen aus der jazzverwandten Musik. 
(RADIOJournal 10/1996)

• Es ist schon komisch. Da suche ich heute per google.de nach "Jazzwelle Plus" Hamburg, aus rein nostalgischen Gründen (ich habe eigentlich nur noch Interesse an Radiogeschichte, weniger an Radio im heutigen Sinne). An erster Stelle der Google-Trefferliste steht der Artikel, den ich seinerzeit für RJ geschrieben hatte... so holt einen die Vergangenheit ein -:)
Die Randbemerkung: dass der Sender fast vier Jahre (Nov. 1991 - Okt. 1995) durchgehalten hat, ist schon bemerkenswert. Freut mich jedenfalls sehr, dass Sie auch einen Beitrag von mir in Ihrer Bestenliste haben. Nachträglich herzlichen Glückwunsch zu 15 Jahren RJ, alles Gute für die nächsten 15 Jahre, und natürlich ein erfolgreiches neues Jahr 2009.
(Mail von Peter C. Klanowski vom 5.1.2009)