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Mit Che Guevara im wilden Westen Ecuadors  Bürgerradios in Ecuador (Teil 2)

Die Reise führt von Quito aus zwei Stunden auf der Panamericana nach Norden, zunächst durch eine zerfurchte Halbwüste, dann durch fruchtbares Haciendaland bis nach einer Kuppe der San-Pablo-See aufblitzt und die kleinen Landparzellen ahnen lassen, dass diese Gegend von den Kichwa-Indígenas bewirtschaftet wird, die ihre Landwirtschaft noch fast ohne Maschinen betreiben. Unterhalb des mächtigen Vulkans Imbabura verlassen wir bei Otavalo die gut ausgebaute Landstraße und folgen der Beschilderung zur Zementfabrik „Selva Alegre“. 

10 Centavos kostet die Benutzungsgebühr für die nächsten 20 Kilometer, auf denen uns nur noch wenige Fahrzeuge entgegenkommen, meistens uralte Pickups, aus mehreren anderen zusammengebaut, die auf der Ladefläche entweder Maissäcke oder aber ein Dutzend eingestaubte Passagiere im Zickzackkurs an den Schlaglöchern vorbei befördern. Vor uns der riesige Vulkan Cotacachi und dahinter der „Wilde Nordwesten“ Ecuadors, in den Camilo und ich nun die nächsten drei Stunden hineinrumpeln werden.

Unser Ziel ist ein kleines Kaff im subtropischen Teil dieser Provinz, am Nordwesthang der Anden und Camilo Escobar, meinem neuen Kollegen in der Ausbildungsabteilung von CORAPE, ist die Aufregung anzumerken, die seinem ersten Einsatz als Seminarleiter vorausgeht. Mehrere Kilometer breit ist die Lavarampe des Cotacachi, die hier die Landschaft geformt hat, um uns an einem Pass auf rund 3.800 Metern von der ecuatorianischen Natur faszinieren zu lassen: Das gelbliche Páramogras, die unzähligen kleinen Blüten und die hochandinen Bodendecker, die manchmal an Unterwasserpflanzen erinnern, werden auf wenigen Metern von Riesenfarnen, Helikonien und lianenbehangenen Baumriesen abgelöst, die das feucht-warme Küstenklima bis in diese Höhen wachsen lässt. Nach der nächsten Kurve zwingt uns eine weiße Wand zum Kriechtempo und es dauert eine ganze Stunde Talfahrt bis wir die Höhenlage des Nebelwaldes verlassen und unterhalb dieser ewigen Wolke wieder einen freien Blick auf die Landschaft gewinnen. 

Während wir uns auf der steilen Lehmpiste langsam unserem Ziel nähern, gehen Camilo und ich noch einmal den Plan für die nächsten drei Tage durch: Eine Gruppe Jugendlicher braucht Unterstützung beim Aufbau eines Radioprogramms und hat daher das Koordinierungsbüro für Bügerradios, die „Coordinadora de Radios Populares y Educativas del Ecuador“, CORAPE eingeladen. Im Bild: Begeisterte Jugendliche ... mit Megaphon

Einen Radiosender gibt es hier allerdings nicht. Das Programm soll jeweils sonntags, wenn die Bauern zum Markttag in den Ort kommen, über zwei Lautsprecher auf dem Dorfplatz ausgestrahlt werden. Soviel hatten wir bei einem Vorbesuch bereits vereinbart, bei dem auch klar geworden war, dass die Jungen und Mädchen hochmotiviert und selbstbewusst sind: Als ich sie fragte, wie sie auf die Idee zu dem Projekt kamen, meinten sie, dass sie als Jugend schließlich die Mehrheit im Dorf stellten und ihre Zukunft mitgestalten wollten. 

Drei Mal wollen wir in den kommenden Monaten hierher fahren und der dritte Workshop soll dann mit der ersten Ausstrahlung des Programms gekrönt werden. Camilo und ich haben einen Seminaraufbau gewählt, der uns beiden abwechselnd eine Moderatorenrolle zuweist. In den Schritten Analyse - Ausbildung - Evaluierung wollen wir jeweils die Ideen der Teilnehmer aufnehmen und systematisieren um sicherzustellen, dass das Projekt nicht aus unseren eigenen Köpfen entsteht, sondern auf den Vorstellungen und Wünschen der Jugendlichen aufbaut. 

Partizipative Modelle sind in Lateinamerika beliebt und haben Tradition seit der Befreiungstheologie der 60er Jahre. Dazu liegt unser Ziel im Landkreis Cotacachi, in dem die Bevölkerung seit acht Jahren an der Verteilung der Haushaltsmittel systematisch beteiligt wird, wodurch der Begriff „Demokratie“ hier endlich wieder einen guten Klang gefunden hat. 

Als am Nachmittag rund 20 Mädchen und Jungen in den Versammlungsraum der kleinen Gemeinde Cuellaje kommen, beginnen wir mit der Frage „Was haben wir?“, also mit welchen Elementen können wir für das künftige Radioprogamm rechnen. Das wichtigste zuerst: Auf Kartonkärtchen soll jeder seinen Namen, sein Alter und spezielle Interessen schreiben, sich vorstellen und sagen, was er oder sie gerne zu dem Programm beisteuern möchte. Auf einem Papierbogen halten wir fest, wie sich das „Personal“ zusammensetzt und lernen so unsere Seminarteilnehmer kennen, die zwischen 12 und 18 Jahre alt sind. Im Bild: Begeisterte Jugendliche ... beim Zeichnen.

Für den nächsten Analyseschritt bilden wir zwei Gruppen: Die eine soll die vorhandenen technischen Geräte zeichnen, und aufschreiben, was fehlt oder was noch zu tun ist, während die anderen mit vielen Buntstiften ein Panorama des Publikums ihres künftigen Radioprogramms malt. Es geht uns darum, gemeinsam zu visualisieren, was vielleicht viele Teilnehmer wissen, sich aber in dieser Form noch nie klargemacht haben. Der kreative Schritt lockert uns auf für den nächsten Punkt, für den sich alle in einen großen Kreis setzen und einen kleinen Ball hin und herwerfen. Wer ihn fängt, soll sagen, was das Radioprogramm beinhalten oder bewirken soll: „Was wollen wir?“. 

Camilo schreibt Stichworte auf Kärtchen, die ich an der Wand sortiere, denn schnell bilden sich drei Arten von Antworten heraus, die Radioformate, Themen oder allgemeinere Zielsetzungen betreffen. Klar, nach so einem anstrengenden gemeinschaftlichen Denkvorgang ist erst einmal ein wildes Gruppenspiel nötig – „Obstsalat“, bei dem alle auf Kommando hin- und her rennen - bevor wir die gesammelten Ideen gemeinsam zu einer Zielsetzung formulieren: „Das Ziel unseres Radioprogramms ist alle in Cuellaje über wichtige Neuigkeiten zu informieren, zu unterhalten und zu bilden, indem wir die Formate Nachrichten, Reportage, Interviews etc. benutzen um damit die Entwicklung unserer Region voranzubringen“. 

Mit diesem wichtigen Ergebnis beenden wir den ersten Tag und gehen auf den Dorfplatz um die letzte halbe Stunde Tageslicht für ein wildes Fußballmatch zu nutzen, bei dem uns die kleinen Mädchen vormachen, wir hier auf dem Land gedribbelt wird. Wir sind zufrieden, denn dass die Gruppe eine Zielsetzung gemeinsam erarbeitet hat, schweißt sie zusammen und wir merken, dass unser partizipatives Konzept gut ankommt. Daher können wir am nächsten Vormittag den letzten Schritt der Analyse angehen und Ideen zu der Frage sammeln, „Wie erreichen wir, was wir wollen?“. 

Üben der Interviewtechnik

Die Stichworte aufzugreifen, auf Kärtchen zu visualisieren und an der Wand zu systematisieren, macht Camilo heute schon sichtbar Spaß und die erste Unsicherheit des 33-jährigen Journalisten ist nach dem erfolgreichen Vortag fast verflogen. Mein Job als Berater des Deutschen Entwicklungsdienstes, DED, bezieht sich ja eigentlich auf ihn und die Ausbildungsabteilung der CORAPE, die ich unterstützen soll. Doch neben dem Erfahrungsvorsprung, den ich im ersten Jahr in Ecuador und durch die Schulungen in der DED-Vorbereitung in Bad Honnef mitbringe, wird bei solchen Gelegenheiten auch ein ganz anderer Pluspunkt deutlich, den die internationale Entwicklungszusammenarbeit mit sich bringen kann und der gerade im Kulturunterschied begründet ist. Denn die Ecuatorianer neigen zu einem vergleichsweise sehr formellen, fast steifen Umgang miteinander, der aber bei den Jugendlichen nicht so gut ankommt, wie das lockere Element, dass ich aus der deutschen Kultur einbringen kann.

Camilo und ich haben vereinbart, uns in jeder Pause kurz darüber auszutauschen, wie der eine oder andere die einzelnen Phasen des Seminars moderiert hat. Und nicht nur die Kommentare Camilos haben mir in den vergangenen Monaten viel über die deutsche Kultur klargemacht, die ich ja unwillkürlich mitgebracht habe und die natürlich nicht immer gut mit der ecuatorianischen Kultur harmoniert: Eine Redaktionskonferenz nach deutschem Stil, wo schon mal die Fetzen fliegen und Kritik mehr als deutlich ausgesprochen wird, wäre hier undenkbar, denn der Umgang miteinander ist nicht nur formeller und höflicher. Man vermeidet generell, kritische Punkte direkt anzusprechen, sucht blumige Formulierungen um dem anderen die Meinung zu sagen und so wirkt der Umgang der Ecuatorianer untereinander auf die deutschen Gäste manchmal fast anonym, denn die vermeintlich herzlichen Begrüßungsszenen mit Küsschen und Schulterklopfen wiederholen sich im stets gleichen Ritual, während die Gespräche und Verhandlungen für unsere Begriffe oft das Wesentliche ausklammern und  scheinbar nicht auf den Punkt kommen wollen. 

Im Vergleich ist die deutsche Alltagskultur so gesehen tatsächlich viel lockerer, haben wir doch weniger Respekt vor Titeln und Posten und kommen lieber schnell zur Sache - eine Eigenschaft, die offenbar bei den Jugendlichen ganz gut ankommt, wie Camilo selbst feststellt. Mit dem Vorsatz, sich mehr als gleicher unter gleichen zu sehen, gerät ihm die nächste Phase des Seminars tatsächlich locker und witzig. Nach der Bestandsaufnahme und der Erarbeitung der Zielsetzung, bewegt sich die Gruppe nun auf die eigentliche Ausbildung in journalistischen Formaten zu, mit denen sich der Radioprofi Camilo wesentlich sicherer fühlt. 

Nach einigen Erläuterungen, wie man ein Interview vorbereiten und durchführen kann, geht es in die Praxis und mit jeweils einem Rekorder ausgestattet, schwärmen drei Gruppen in das Dorf aus, um ein naheliegendes Thema zu recherchieren: Wie wird der Kaffee verarbeitet, der in der Gegend hervorragend wächst und dessen Aroma schon den ganzen Tag in der Luft liegt, denn an diesem Samstag wird überall geröstet. Mit den Interviews im Kasten, führen wir eine exemplarische Redaktionskonferenz durch, prüfen die Resultate gemeinsam auf Kriterien, die wir vorher eingeführt hatten und können mit den Aufnahmen dann zum Thema „Nachricht mit O-Ton“ überleiten. 

Nach weiteren Übungen bleibt noch eine Stunde an diesem Nachmittag, die wir nutzen um in drei Gruppen Ideen für ein ganz besonderes Format zu erarbeiten, die „Radionovela“. Erfahrungen mit anderen Gruppen hatten mir gezeigt, wie liebevoll und kreativ die Ecuatorianer sich in szenischen Darstellungen einbringen und wie sehr sich das Format eignet um in die stets gleichen Liebesdramen auch soziale Themen einzuflechten, wie etwa Alkoholprobleme, Umweltschutz oder die Folgen der massiven Arbeitsmigration. Von den 12 Millionen Ecuatorianern leben rund zwei Millionen im Ausland, so dass viele Kinder bei den Großeltern oder anderen Verwandten aufwachsen, was Bindungslosigkeit und verzerrte Einstellungen zu Arbeit und Geld nach sich zieht, denn dass die Eltern in Spanien oder den USA hart für die Dollars arbeiten, die sie monatlich überweisen, bleibt für ihre Kinder unsichtbar. Im Bild: Gespräch beim Kaffee rösten.

Tatsächlich taucht das Thema dann auch in den kleinen Drehbüchern von zwei Gruppen auf, etwa indem die große Liebe das Dorf verlassen muss, um zur Tante nach Quito zu ziehen, während die Eltern nach New York gehen. Die dritte Gruppe allerdings hat eine Art Ursprungsmythos des Dorfes erdichtet, in dem die eigenen Großeltern auftreten, die vor gerade einmal 30 Jahren in diesen abgelegenen Winkel des Landes zogen und Cuellaje gründeten. Geschichten aus der neuen Welt. 

Beim abendlichen Bier unten am Fluss werden Camilo und ich ein bisschen euphorisch und freuen uns über das Projekt, dass es der Dorfjugend ermöglicht, die verschwommenen Erinnerungen der Gründergeneration mit der konfliktiven Gegenwart und einer unsicheren Zukunft zu verknüpfen, und damit eine eigene Geschichte zu konstruieren, was diesen Jungen und Mädchen Identität und Selbstwertgefühl geben kann - Eigenschaften die in einem postkolonialen Vielvölkerstaat keine Selbstverständlichkeit sind.

Unter den träumerischen Augen des Che Guevara, dessen Portraits auf Postern und T-Shirts immer gegenwärtig ist, erarbeiten wir am Sonntagvormittag ein Planungsschema für das junge Redaktionsteam, mit dem die künftigen Treffen strukturiert werden können, denn nun sind die Aufgaben identifiziert und die Hausaufgaben verteilt. Bis zum nächsten Seminar in sechs Wochen sollen die Älteren einige Themen recherchieren und Interviews führen, eine kleine Gruppe wird sich um die Technik kümmern, während die Jüngsten atmosphärische O-Töne sammeln wollen, das Rauschen des Flusses, das Glockenläuten und das Rasseln der Kaffeebohnen beim Rösten. Im Bild: Ein Korbflechter bei der Arbeit.

Gut zwei Stunden dauert es, bis wir auf der Rückfahrt wieder die Zivilisation des Handynetzes erreichen und unsere Nachrichten abrufen können: Camilo soll noch an diesem Abend an die Küste reisen, um ein Mitgliedsradio der CORAPE bei einem Pilotprogramm zur Korruptionsbekämpfung zu unterstützen, während ich in den kommenden Tagen die Methodik für ein Seminar über Umweltjournalismus im Amazonasgebiet ausarbeiten werde. 

Wir verlassen den Wilden Westen Ecuadors, überqueren den Pass und fahren wieder am Cotacachi vorbei, dessen andine Flanke von Kichwa-Indígenas bewohnt ist, die angeheitert oder verschlafen neben der Straße stehen, denn in diesen Tagen wird Inti-Raymi gefeiert, das Erntedankfest, das Camilo und ich jetzt auf das erfolgreiche Seminar münzen.

Kai Laufen
Fotos: © Kai Laufen

Aus RADIOJournal 9/2004