Radioarchiv

 Memories aus 20 Jahren RADIOJournal

Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunkgeschichte
Vom NWDR zum WDR - Startschuss für den WDR
Interview mit
Chris Howland

Vor 50 Jahren fiel der Startschuss für den Westdeutschen Rundfunk. Im März 1955 etablierte sich als Basis der neu zu gründenden Rundfunkanstalt der Rundfunkrat. „Dat ‚N’ es fott“, hieß es im Westen. Aus dem Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) waren WDR und NDR hervorgegangen. Die ehemaligen Mitarbeiter im Westen bekamen einen neuen Arbeitgeber. Für die Hörer blieb nach dem Sendestart im Januar 1956 nur auf den ersten Blick vieles, wie es war. Spurlos konnte und sollte der organisatorische Einschnitt nicht erfolgen.

Vor allem den Entwicklungen im Programm widmet sich die dritte Ausgabe der „Nordwestdeutschen Hefte zur Rundfunkgeschichte“. Unter dem Titel „Vom NWDR zum WDR. Gespräche zur Programmgeschichte“ ist sie jetzt erschienen. Peter von Rüden, Leiter der Forschungsstelle zur Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland, führte dafür Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des Kölner Senders, die einen Einblick in die frühe Rundfunkarbeit geben. Die Interviewpartner beschreiben die Hoffnungen, Erwartungen und Ängste ihrer Generation, die den Rundfunk als Instrument freier Meinungsäußerung in der jungen deutschen Demokratie festigte, und sie bewerten das, was ihrer Meinung nach davon geblieben ist.

Faktenreich, unterhaltsam und kritisch schildern fünf Pioniere und führende WDR-Programm-Macher der ersten Stunden ihre Arbeit. So beschreibt Claus-Hinrich Casdorff die Kunst, mit den richtigen Fragen auch hinter die Floskeln der Politiker zu kommen. Chris Howland berichtet von den ersten Schlagern im NWDR-Hörfunk und Musiksendungen im Fernsehen. Heinz Werner Hübner spricht über Aufgaben und Herausforderungen eines Programmdirektors. Den Weg von der NWDR-Rundfunkschule bis zu den ersten Zielgruppensendungen zeichnet Hilde Stallmach-Schwarzkopf nach und Dieter Thoma erzählt über die Verträglichkeit von seriösem Nachrichtenjournalismus und Kabarett sowie über die Anfänge der Auslandsberichterstattung.

Für Radiofans besonders interessant ist der Abschnitt über Chris Howland, älteren Hörern noch bekannt mit seinem großen Schlagererfolg „Das hab’ ich in Paris gelernt“ und seiner ersten großen Fernsehserie »Musik aus Studio B« (1961-1970). 1948 kam Chris Howland als Soldat zum englischen Hörfunksender British Forces Network (BFN) nach Hamburg, wurde dort schließlich Chefsprecher und Chef der Musikabteilung. Ab 1952 war er als Radiomoderator („Plattenjockey“) beim NWDR aktiv und morderierte eine halbstündige Fernsehsendung. Er spielte in Fernseh- und Filmkomödien mit, produzierte und moderierte die Fernsehsendung »Vorsicht Kamera« (1961-1963). Nach einer längeren Pause von der Rundfunkarbeit moderierte Chris Howland ab 1975 im WDR- und NDR-Hörfunk unter anderem die Sendung »Souvenirs, Souvenirs«. Seit den 80er Jahren war er auch für R.SH und RTL tätig. 1995 erschienen seine autobiographischen Erzählungen „Happy Days“. 

Es gab in der Nachkriegszeit nur ein NWDR-Mittelwellenprogramm im Radio, UKW war noch ganz am Anfang der Entwicklung. Englischsprachige Popmusik fand nicht statt. Eines Tages tauchte Chris Howland spontan in der Rothenbaumchaussee auf und wollte den Musikdirektor sprechen: „I want to see the music-boss“. Nach zehn Minuten stand er vor Christian Törslef und sagte zu ihm: „Sie haben auf mich gewartet. Ich bringe, wenn Sie mir eine Stunde in der Woche geben, für diese eine Stunde alle Leute zurück, wo die hingehören – zum Nordwestdeutschen Rundfunk.“ Chris Howland, der zu der Zeit kein Deutsch konnte, überzeugte mit dem Argument, dass er viele Hörer zurückbringt, die sonst den BFN hören würden. Er bekam den Job, brauchte dafür aber die Zustimmung des britischen Senders wo er angestellt war, und so moderierte er beim NWDR für 20 Mark Trinkgeld, die er der Sekretärin gab für Übersetzungen. Am Abend vorher übte Chris Howland die deutschen Wörter richtig auszusprechen. Die erste Sendung auf der Mittelwelle des NWDR ging am 1. September 1952 live auf die Antenne. 

Auszüge aus einem Interview mit Chris Howland

Es gab damals in dem großen Funkhaus des NWDR keinen Plattenspieler, mit dem man eine Single mit 45er Umdrehung abspielen konnte?

Nein. Die zwei vom Amerikahaus [hatte Chris Howland leihweise bekommen] waren für mich und die zwei im Regieraum waren für die Effekte: galoppierende Pferde, Explosionen, Sirenen. Das alles habe ich irgendwie eingebaut in die erste Sendung.

Den englischen Begriff des Discjockeys mochte man dem deutschen Publikum noch nicht zumuten, so wurden Sie Schallplattenjockey.

Schallplattenjockey, ja. Das fand ich auch ziemlich mundvoll. Aber der Schallplattenjockey muss ein Pferd haben. Deswegen habe ich die galoppierenden Pferde gespielt und Pferdewiehern und alles. 

Eine solche Sendung muss im Umfeld des seriösen NWDR-Mittelwellenprogramms mit Nachrichten, Hörspielen sowie Tanzmusik etwas Ungewöhnliches, Revolutionäres gewesen sein. Wie haben die Hörer darauf reagiert? Wie hat der Sender darauf reagiert?

Es muss eine Sensation gewesen sein, aber das habe ich nicht mitgekriegt. Einige deutsche Kollegen von mir im BFN haben gesagt: „Um Gottes Willen, was hast du denn gestern gemacht?“. Und dann habe ich am Ende der Woche, als die ersten Briefe kamen aus Kairo, Stockholm und von überall - Mittelwelle ging viel weiter als heutzutage UKW - langsam begriffen, dass ich irgend etwas verbrochen habe. [Allein auf die erste Sendung sollen etwa 1.500 Hörerbriefe gekommen sein.]

Man muss es noch einmal betonen: Englischsprachige Popmusik in einem deutschen Sender war damals absolut ungewöhnlich.

Das war das Problem. Ich glaube, das war für viele, viele Jahre das Problem. Nicht nur mit mir, sondern allgemein. Wir haben deutsche Künstler, wir haben deutsche Musiker, warum sollen wir dann die ausländische Musik spielen? Ich war natürlich konzentriert auf gerade diese ausländische Musik, weil ich die deutsche Szene nicht kannte. Meine Antwort war: Punkt eins, es ist nur eine Stunde in der Woche. Punkt zwei: Warum haben wir so viele deutsche Hörer für BFN, wo nur diese Musik gespielt wird? Für wen arbeiten wir? Wir arbeiten für das Publikum. Und wenn Ihr Publikum diese Musik hören möchte, dann ist es Ihr Job, das zu spielen, weil die zahlen.

Ihre Programme waren vor allen Dingen bei den Jugendlichen populär.

In der Art schon, ja. Man muss selber eine Fantasie haben, zu wem man spricht. Jeder Hörer ist ein Einzelhörer. Man darf nicht denken, ich rede mit einer Million Leute. Ich rede nur mit einer Person und jede einzelne Person hat das Gefühl, sie wird persönlich angesprochen. Das ist, was wir gelernt haben: „to project yourself“. Selbst wenn man in eine Fernsehkamera guckt, darf man nicht an die Millionen denken. Es ist genau das gleiche Prinzip. Wir sind lauter Einzelpersonen.

Diese Art zu moderieren und die Musiktitel, die Sie spielten, waren wahrscheinlich das Geheimnis Ihres Erfolges. Wie haben Sie die Musiktitel ausgewählt?

Das ist auch eine interessante Sache. Ich habe die neuesten Platten immer bekommen, von Amerika und auch von England. Sehr viele. Man musste eine Methode haben, eine Platte schnell zu hören. Ich konnte eine Platte für ungefähr 15 bis 20 Sekunden hören und wusste sofort: Ja, das ist es oder das ist es nicht. So habe ich das gemacht. Es steckt vielleicht in meinen Genen: Ich höre eine Platte und sage, das ist gut. Dann habe ich lauter Platten von diesen ausgesucht und gespielt. Im Bild: 50 Jahre Westdeutscher Rundfunk - Chris Howland (1958).

1954 wechselte Chris Howland nach Köln. Dort gab es auch ein Funkhaus des NWDR, und der BFN, für den er noch inoffiziell arbeitete, war nach Köln-Marienburg verlegt worden. Damals hatte der NWDR zwei UKW-Programme: UKW-Nord und UKW-West. Letzteres kam aus Köln und war für Nordrhein-Westfalen bestimmt. Für dieses Programm machte Chris Howland seine Sendung und hatte anfangs kaum Hörer, weil die noch keine UKW-Empfänger besaßen. Es dauerte ein Jahr, bis mehr als vielleicht ein Brief in der Woche ankam, und dann waren es plötzlich 144 Briefe.

Sie konnten an Ihrer Hörerpost merken, wie sich die UKW-Endgeräte ausbreiteten?

Genau! Aber der Sprung war von eins auf hundertvierundvierzig. Das war für mich sensationell. Und dann ging es immer noch weiter, bis ich dann vierzig-, fünfzigtausend Briefe in der Woche bekommen habe. Das war allerhand.

War dieses UKW-West-Programm schon etwas näher an einem „Funk im Rollkragenpullover“?

Ja, die haben ein Studio für mich gebaut. Dafür haben sie die gleiche Firma benutzt, die das Studio für BFN [später BFBS] in Marienburg gebaut hatte. Das einzig andere war, ich habe die Regler andersrum eingebaut. Einige Leute waren sauer, dass ich die Regler, statt sie von mir aus aufzumachen, zu mir zog, wenn ich das Mikro aufgemacht habe. Da habe ich auch eine Person gehabt, die für mich übersetzt hat. Ich kriegte hundertzwanzig Mark pro Sendung. Zwanzig Mark waren Reisekosten von Hamburg, weil ich anfangs noch in Hamburg lebte. So habe ich in Köln - wenn man will - im Rollkragenpulli Musik gemacht. Was viele nicht wissen ist, dass nach diesen hundertvierundvierzig Briefen Publikum im Studio war. Aber die mussten mäusestill bleiben. Der Portier beim WDR hat Verbindungen mit Schulen und so weiter gehabt, und da hatte ich dann jede Woche zwanzig, dreißig Leute im Studio, die da gesessen und das miterlebt haben.

Fünfzig Jahre Rundfunk- und Fernsehgeschichte - programmgeschichtliche Anstöße sind mit Ihrem Namen verbunden. Sie haben beim NWDR angefangen, dem Sender in der britischen Besatzungszone, der nach dem Vorbild der BBC konzipiert wurde. Aus diesem NWDR sind NDR, WDR und der Sender Freies Berlin hervorgegangen. Haben Sie eine Meinung zu diesen fünfzig Jahren Entwicklung, wenn Sie das mit der Entwicklung der BBC vergleichen? War das eine parallele Entwicklung? Gibt es eine Tradition der BBC, die Sie heute noch im deutschen Rundfunk- und Fernsehsystem erkennen?

Da tapse ich ein bisschen im Dunkeln, weil ich höre nur die BBC. Jeden Tag, das ist ein wichtiger Teil dieser Stunde, liege ich mit einer Tasse Tee im Bett und höre dann alles, was in England und der Welt passiert, durch die BBC serviert in einer fantastischen Art und Weise. Ob das auch mit deutschem Rundfunk das gleiche ist, darauf kann ich keine Antwort geben.

• Peter von Rüden (Mitherausgeber der Dokumentationsreihe „Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunkgeschichte“) sprach mit Chris Howland am 24. Januar 2002. Das Interview kann in voller Länge in dem Band „Vom NWDR zum WDR - Gespräche zur Programmgeschichte“ nachgelesen werden. Die „Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunkgeschichte“ sind als kostenloser PDF-Download über die Webseite der Forschungsstelle erhältlich: www.nwdr-geschichte.de 

Fotos: © WDR (privat / Martin Eggert / Karnine / Bernd Maurer)

Aus RADIOJournal 4/2005