»Nachwirkung«
Radio kann mehr

Umgang
mit den Hörern: 
Deutschlandradio Kultur 
»HörenSagen
im Gespräch« 
Dieter Kassel


Schon in seinem Jugendzimmer produzierte der 1968 in Duisburg geborene Rundfunkfreak eigene Demotapes. Die Musik dazu kam von einem alten Plattenspieler und einem der ersten auf dem Markt befindlichen CD-Player. Bereits zu Schulzeiten bewarb Dieter sich beim großen WDR, bekam aber zunächst eine Absage. Nach dem Abitur - und mit dem festen Vorsatz, Moderator zu werden - klappte es dann beim Ulmer Privatsender Radio 7, der gerade im Entstehen begriffen war. Hier bot man Dieter Kassel allerdings zunächst „nur“ ein Volontariat an. Er war kühn genug, dies mit der Forderung zu verbinden, auf jeden Fall während dieser Zeit moderieren zu können. Für das zweite Volo-Jahr wurde ihm das dann auch in Aussicht gestellt. Schließlich ging es doch schneller als gedacht. Im November 1987 fing Dieter Kassel bei Radio 7 an, im Dezember hatte er schon seine erste Nachtsendung moderiert. Nach dem Volo blieb Dieter Kassel noch ein knappes Jahr als freier Moderator bei Radio 7, ehe er bei Antenne 1 in Stuttgart anfing. 

Eigentlich wollte der begeisterte Rundfunkfan (der sich bis heute intensiv mit Programmen auf allen Wellenbereichen befasst) schon immer nach Berlin, um beim dortigen RIAS zu arbeiten. Als es Dieter dann endlich in die Hauptstadt verschlug, gab es den legendären Sender nicht mehr. Zunächst moderierte er 15 Monate bei Energy Berlin, ehe Dieter Kassel - nachdem auch rias2 ihm keine Arbeit geben konnte, weil es sich bereits in der Privatisierung zu r.s.2 befand - für sechs Jahre bei der ORB-SFB-kooperierten Jugendwelle Fritz in Potsdam-Babelsberg Unterschlupf fand. Hier war er vom
1. März 1993 bis Ende Februar 1999 tätig, kannte also auch noch das Funkhaus in der Nalepastraße, dem Sitz des einstigen
DDR-Rundfunks, von wo Fritz bis zu seinem Umzug nach Brandenburg sendete. 

Beim kreativen und chaotischen Jugendradio war Dieter Kassel beinahe in jeder Sendeschiene zu hören, so unter anderem in der Frühmoderation mit Matthias Hanselmann (heute Deutschlandradio Berlin und Radio Eins), im Blue Moon (Schockerlebnis hier die Sendung »Reden über Bücher« mit gerade mal vier Anrufern) oder die längste Zeit bei den »RadioFritzen am Nachmittag«. Über ein Casting, bei dem ein männlicher Moderator für die Sendung »HörenSagen im Gespräch« gesucht wurde, landete Dieter Kassel schließlich 1999 doch noch im traditionellen RIAS-Funkhaus, allerdings bei dessen Nachfolger Deutschlandradio Berlin. Zuerst konnte er nur zwei, drei Tage im Monat dort arbeiten, mittlerweile macht er neben der Sendungsmoderation in der Woche oder am Samstag auch die redaktionelle Arbeit mit. „Auch wenn ich zuallererst Moderator werden wollte, habe ich die Redaktion immer spannend gefunden. Radio 7 war ja damals auch noch ein richtiges Vollprogramm mit Beiträgen, hier habe ich redaktionelles Arbeiten von der Pike auf gelernt.“ Verschmitzt fügt er hinzu, „das Außenstudio Tuttlingen, in dem ich während des Volontariats in der Lokalredaktion arbeitete, war das einzige, das der Chef in der Zentrale nicht empfangen konnte“. 

Freilich ist Dieter Kassel Profi genug, um immer zu wissen, wo die Grenzen sind. Wichtig ist dies beim Umgang mit seinen Gästen, auf die er sich mindestens drei bis vier Stunden intensiv vorbereitet. Dazu bekommt er aus der Redaktion ein Dossier mit den wichtigsten Infos über die Besucher, darüber hinaus liest er viel und zieht passende Begebenheiten aus dem Internet. Am wichtigsten ist Dieter Kassel immer die Einstiegsfrage, die „die Hörer neugierig machen, den Gast auflockern, aber auch originell sein soll“. Die Gäste sind meist nicht-prominent, vielfach aber Experten auf einem bestimmten Fachgebiet. Samstags findet »HörenSagen im Gespräch« mit Hörerbeteiligung statt. Die Anrufer reichen von jungen Hörern bei einer Alzheimer-Sendung bis zu älteren Hörern bei Computerthemen. 

Eine interessante Sendung gab es jüngst mit Noch-VIVA-Boss
Dieter Gorny zur geplanten Musikquote für deutschsprachige Titel. Dieter Kassel unterscheidet bei seinen Studiogästen zwischen „anerkannten Experten, die Kommunikation gewöhnt sind“ und „Menschen, die zum ersten Mal in einem Radiostudio sitzen und gewisse Berührungsängste haben“. Entsprechend unterschiedlich muss man sich dann auch um sie kümmern. Aber auch ein Experte birgt mitunter Tücken, wenn er nämlich zwar viel Ahnung hat, dies aber nicht in einfache Worte packen kann. Probleme hat Dieter Kassel mit Gästen, die allzu viele Gesprächsthemen auf den Index setzen wollen. „Natürlich respektiere ich Privates, aber für den Hörer muss schon erkennbar bleiben, warum ein bestimmtes Thema nicht vorkommt.“ Wichtig ist dem Radio-Allroundler auch, dass die Sendung spontan ist, „schließlich wird ein Gespräch langweilig,
wenn die Antworten schon vorher feststehen“. Das gleiche gilt auch für die Fragen. „Ich formuliere wenig vor, arbeite bestenfalls mit Stichpunkten“, so Dieter Kassel. „Denn die besten Fragen sind die, die sich aus dem Zuhören ergeben.“ 

Als Manfred Krug einmal zu Besuch war, hatte er zunächst extrem schlechte Laune, die er auch den Moderator spüren ließ. Erst als Dieter Kassel erwähnte, er sei in derselben Straße in Duisburg geboren, in der Krug eine Zeit lang wohnte, taute das Eis zwischen den beiden und der Schauspieler merkte, dass sich der Moderator wirklich intensiv mit ihm beschäftigt hatte. 

Eine Häkel-Künstlerin, die Dieter Kassel auf dem Flur mit den Worten „Hätte ich gewusst, dass Sie ein Mann sind, wäre ich nicht gekommen“ begrüßte, legte gleich eine Liste mit 21 Tabuthemen vor und drohte mehrmals, bei nicht genehmen Fragen die Sendung abzubrechen. „Aber das sind schon absolute Ausnahmen“, stellt Dieter Kassel klar. Aufzeichnungen gibt es nur aus Termingründen oder bei extrem unsicheren Gästen ohne Interviewroutine, alles andere ist live. Wie es denn ist, wenn man einen Gast besonders mag oder eine gesunde Abneigung gegen ihn hegt, will ich wissen. „Gespräche können tendenziell schlecht werden, wenn man die Standpunkte seines Gegenübers teilt, oder aber von einem Thema zu viel versteht. Schließlich kann sich aber ein vermeintlich netter Gast als genaues Gegenteil entpuppen und eine nicht gerade sympathisch geglaubte Person als durchaus liebenswürdig. Letztendlich bringt man seine Meinung und seinen Geschmack durch die Fragen unter“, meint Dieter Kassel. Ärgerlich findet er Fehler im Munzinger-Archiv, die sich durch Generationen von Sendungen schleppen und die Gesprächspartner immer verärgern. 

Die Lebensgeschichten, die Dieter Kassel zu hören bekommt, gehen ihm oftmals nahe und beschäftigen den Moderator auch noch nach der Sendung. Aufgewachsen ist er mit dem SWF genauso wie mit den berühmten holländischen Sendern. Als großer Fan von „der Lockerheit im englischen Radio, die aber nie unseriös ist“, darf natürlich auch der Soldatensender BFBS bei den Lieblingsprogrammen nicht fehlen. „Mir gefällt es sehr, wie die Engländer es scheinbar leicht schaffen, eine Stunde zu füllen, auch mit kurzweiligen Wortprogrammen“, schwärmt Dieter Kassel zum Schluss des Gesprächs. Er muss zurück in die Redaktion. Das nächste Dossier will gelesen werden, denn schon tags drauf sitzt der bis dato unbekannte Gast im Studio.

Stefan Förster
Foto: © DRadio

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